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Tomás Gutiérrez Alea | Biographie | Filmographie | Interviews

GUANTANAMERA

Tomás Gutiérrez Alea, Juan Carlos Tabío, Cuba, Spanien, Deutschland 1995

101 Min., Spielfilm, Tornasol Films, Alta Films, Prime Films, Farbe, 35 mm


Filmkritiken:


GUANTANAMERA

"Havanna - ein Gipfeltreffen der kubanischen Bestattungsunternehmer. Am runden Tisch beschließt man vor dem Hintergrund einer Benzinkrise, die drastische Maßnahmen zur Senkung des Kraftstoffverbrauchs verlangt, strenge Richtlinien für den Benzinverbrauch bei Leichentransporten herauszugeben. Denn jedermann hat in Kuba das Recht, in seinem Heimatort begraben zu werden. Adolfo (Carlos Cruz) aus Guantánamo hat ein wunderbares Konzept: Das Benzin wird nach dem durchschnittlichen jährlichen Umsatz eines Instituts in genau berechneten Rationen zugeteilt, die Leichenwagen sollen jedoch nur in ihrer Provinz verkehren, Leichen für andere Regionen darf der Bestattungsunternehmer nur bis zur nächstliegenden Leichenhalle des angrenzenden Bezirks fahren, um sie dort einem Kollegen zu übergeben. Ob Benzin gespart wird oder nicht - Adolfo will es gleich seinen Kollegen beweisen, denn Tante Yoyita ist unerwartet gestorben.

Die alte Sängerin aus Guantánamo - una Guantanamera

Die Sängerin Yoyita (Conchita Brando) hat in ihrer behüteten Kindheit ihre Heimatstadt Guantánamo noch in besseren Tagen kennengelernt, zog dann aber nach Havanna, die Stadt der Zukunft. Früher einmal war Guantánamo, die Hauptstadt der östlichsten Provinz Kubas, in der die Amerikaner seit 1903 bis heute eine militärische Basis unterhalten, eine blühende Stadt - heute ist vieles in Trümmern, doch das Leben läuft weiter. Yoyita besucht ihre Heimatstadt und findet zu ihrer ersten großen Liebe zurück: Cándido (Raúl Eguren), ein alter Musiker. Das Leben ist fast vorbei, da gestehen sie sich ihre Liebe - und Yoyita stirbt in Cándidos Armen. Mit dem Sarg quer durch Kuba Yoyita soll in Havanna begraben werden, jetzt kann Adolfo, der Ehemann von Yoyitas Nichte Georgina (Mirtha Ibarra), sein ausgefeiltes System des Leichenwagentauschs in die Realität umsetzen. Ein schwarzer Cadillac dient als Leichenwagen, ihm folgt eine russische, klapprige Limousine mit den Begleitpersonen: Cándido, Georgina, Adolfo und der Fahrer Tony, der auf dem Weg einige undurchsichtige Deals erledigen muß und auch über einige Dollars verfügt. Der miserable Zustand der Autos, Tonys Handel mit Schwarzmarktware, eine Schwangere, die die Wagen anhält, um sie zum Krankenhaus umzulenken, und auf dem Weg noch ihr Baby im Auto zur Welt bringt, sind nicht die einzigen komischen Hindernisse auf dem Weg nach Westen. Adolfos Konzept kommt ins Schlingern, als er in einigen Provinz-Bestattungsinstituten mit einem unerwarteten Leichenandrang konfrontiert wird, so dass er sich gezwungen sieht, einen zweiten Sarg mitzunehmen, was am Ende natürlich zur Verwechslung der Leichname führt. Gänzlich aus der Fassung gerät Adolfo schließlich durch Mariano.

Marianos Schwäche für Frauen - la Guantanamera Georgina

Zusammen mit seinem Freund Ramón (Pedro Fernández) steuert der stämmige, schöne Mariano (Jorge Perrugorría) einen riesigen Truck auf der gewohnten Strecke von Guantánamo nach Havanna. überall erwarten ihn die Frauen, seien es häßliche oder hübsche, schwarze oder weiße, dicke oder dünne. Doch Mariano hat plötzlich nur noch eine im Sinn: In einer Bar am Wege trifft er auf Georgina, seine frühere Lehrerin an der Universität, als er noch Ökonomie studierte. Gina war eine unerreichbare Liebe, seinen Liebesbrief hatte die verheiratete Frau nie erwidert. Seine schönen Augen faszinieren sie noch wie damals. Bald erkennt sie jedoch die Fadheit ihrer Ehe mit dem opportunistischen, durchschnittlichen Adolfo, der die von ihr schon längst durchschaute ökonomische Absurdität seines Leichentransportplanes nicht wahrnehmen will. Und Cándido, durch die verpaßte Liebe zu Yoyita weise geworden, ermuntert Georgina, die Augen zu öffnen und die Chance zu einem anderen Leben wahrzunehmen. Georgina und Mariano treffen sich zufällig mehrfach wieder und kommen sich näher. Nur schade, dass auf Mariano noch andere Damen Anspruch erheben. Das führt zu Turbulenzen und erheblichen Zeitverzögerungen beim Leichentransport. Georgina will mit so einem Casanova nichts zu tun haben; doch die Ehe mit Adolfo kann sie nicht mehr ertragen. Letzte Ruhe in Havanna und der Beginn eines besseren Lebens? Dass die arme Yoyita nicht in ihrem Grab ruhen darf, sondern an ihrer Stelle ein alter Schwarzer liegt, ist eines der tragikomischen Ergebnisse von Adolfos Plan. Dass an seiner Planwirtschaft auch seine Ehe kaputtgeht, hätte er sich nicht im Geringsten erträumt. Aber all das bringt ihn nicht aus der Bahn. Pflichtgemäß hält er eine schmetternde Rede am Grab mit falscher Leiche, indem er sich auf einen Sockel eines kaputten ehemaligen Grabmals stellt. Der berühmte Beerdigungsinstitutsdirektor Adolfo aus Guantánamo schwingt markige sozialistische Sprüche - ein lebendiges Denkmal, dem niemand zuhört; denn es regnet in Strömen. Armer Adolfo, armes Kuba? Aber Adolfo macht sich nichts daraus, es muß weitergehen. Georgina, die unter den Trauergästen ist, sieht Mariano kommen. Sie lächelt, läuft auf ihn zu; sie umarmen sich und gehen Hand in Hand aus dem Friedhof weg - in ein neues Leben, ein besseres?"

Kinowelt (http://www.gim.de) Januar 1996


GUANTANAMERA

"50 Jahre lang haben sie sich geliebt, ohne sich zu Gesicht zu bekommen, aber erst am Tag ihres Wiedersehens wird ihnen das bewußt: Yoyita, die alternde Sängerin, die nach Guantánamo zurückgekehrt ist, um einen Preis für ihr Lebenswerk entgegenzunehmen, und der Musiker Cándido. Noch am selben Tag schwören sie, für immer zusammenzubleiben, aber im nächsten Moment stirbt Yoyita in Cándidos Armen. Dass ihr Weg damit noch nicht zu Ende ist, läßt die Parallelhandlung um den ehrgeizigen Leichenbestatter Adolfo ahnen, der glaubt, einen Weg gefunden zu haben, trotz des rationierten Benzins jede Leiche zu jedem gewünschten Friedhof auf Kuba bringen zu können: indem sie an der Provinzgrenze jeweils in einem anderen Leichenwagen umgeladen wird, der mit dem Benzin aus seiner Provinz bis zur nächsten Grenze fährt - ein Plan, der, wie Adolfo hofft, ihn wieder ganz nach oben ins Führungskader der Provinz bringt. Nebenbei ist er mit Yoyitas Nichte Georgina verheiratet, und da Yoyita tot ist, wird die tote Tante seine erste Fracht gemäß des neuen Plans. Begleitet wird sie von Adolfo, Cándido und Georgina sowie dem Fahrer Tony. So nimmt eine Reise vom Südosten der Insel bis zur Hauptstadt im Nordwesten ihren Anfang und damit ein wunderbares Roadmovie - das von Wim Wenders' Produktionsfirma coproduziert wurde und doch sehr spezifisch für sein Herkunftsland ist.

Man bekommt ein Kuba zu sehen, das weitab von den Touristen zugänglichen Anlagen existiert und ungleich deutlicher seinen Zustand offenbart. Die Straßen werden von Händlern gesäumt, die, je weiter man sich der Hauptstadt nähert, lieber Dollars als Peso für ihre Naturalien haben wollen. Der Chauffeur, mit Aussicht auf einen einträglichen Weiterverkauf, gibt sie ihnen. Eine Hochschwangere steht am Straßenrand und versucht, per Anhalter zu einem Krankenhaus zu gelangen; eine versteckte kulinarische Oase bietet unbegrenzt Fleisch an - viel deutlicher als in ERDBEER UND SCHOKOLADE (...) weist Tomás Gutiérrez Alea auf die desolate Lage hin, in der sich sein Land derzeit befindet. Aber der Film ist kein politisches Pamphlet. Alea findet zu seiner einzigartigen Erzählweise zurück, in der er besonders das nachrevolutionäre kubanische Kino mit auf den Weg zu bringen half. Sie ist zum einen gekennzeichnet durch die Nähe und Affinität zum Dokumentarischen, zum anderen durch die oft ambivalente Zeichnung seiner Hauptfiguren und die ironische Brechung ihrer Situation. Das Komische im Traurigen, die Tragik ihrer Komik - Alea spiegelt mit der subtilen Verquickung der Perspektiven seine eigene Haltung zu Land und Regierung und versucht dadurch zugleich, eine Art kollektiven Bewusstseinsstand einzufangen. In ERINNERUNGEN AN DIE UNTERWICKLUNG von 1968 schienen sich die wachsende Skepsis gegenüber dem Castro-Regime und der Appell, eine neue Nation zu schaffen, einander die Waage zu halten. In GUANTANAMERA ist die Planerfüllung nur noch lächerlich, personifiziert durch Adolfo, dessen Eifer keinen Platz für Liebe und Toleranz läßt.

Beides findet sich dafür in der kontrapunktisch angelegten Geschichte des schönen, begehrten Mariano und dessen Freund Ramón, die mit ihrem Lastwagen ebenfalls nach Havanna fahren. Mariano hat einst sein Studium abgebrochen: weil der Fahrerjob mehr Geld versprach, aber auch, weil die Professorin, in die er verliebt war, gehen musste, auf Grund ihrer vom offiziellen Curriculum abweichenden Lehrmeinungen. Die Professorin, das war Georgina; und nun treffen sie sich wieder - zufällig, aber gleich mehrmals am selben Tag. Der Erkenntnisprozess, der bei Yoyita und Cándido ein ganzes Leben dauerte, geht hier schneller voran. Sie folgen, schon das ein Manifest, ihren individuellen Bedürfnissen. Zudem steht mit Georgina eine Dissidentin im Mittelpunkt, deren Tochter bereits nach Miami gegangen ist. »Ich war es leid, mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen«, sagt sie, bekommt aber zu hören: »Einmal wird die Wand nachgeben«. Aleas Film enthält also nicht bloß einen milden Aufruf zur Toleranz wie in ERDBEER UND SCHOKOLADE (gegenüber der Homosexualität), sondern eine deutliche Stellungnahme zur Bevormundung im Totalitarismus. Dass der Weg in ein neues Leben über den Weg zum Friedhof führt, ist dafür eine deutliche Metapher und gibt der Geschichte zugleich eine schwarzhumorige Note.

Es ist die dritte Zusammenarbeit Aleas mit Juan Carlos Tabío, der sich auch als Dokumentarfilmer und Komödienregisseur profiliert hat. Bei ERDBEER UND SCHOKOLADE stand er dem erkrankten Alea zur Seite, die neuerliche Co-Regie ging man ohne derlei Zwänge ein. Im Vorgänger war bereits Mirtha Ibarra zu sehen, die hier Georgina spielt: ebenso Jorge Perugorría, dessen Part als Macho-Lastwagenfahrer Mariano kaum weniger überzeugend ist als seinerzeit die großartige Verkörperung des Homosexuellen, die ihn international zum Star gemacht hat. Der titelgebende Gassenhauer übrigens, 1941 von Joseíto Fernández Díaz geschrieben, besingt zwar nur ein Mädchen aus Guantánamo, wurde aber in der spanischsprechenden Welt immer wieder als rebellische Manifestation genutzt.

Oliver Rahayel in: Filmdienst Nr. 2 1996, S.18-19


Im Land der reisenden Leichen

"'Guantanamera', 1941 von Joseíto Fernández Díaz geschrieben, gilt als politisches Lied. Damals als Ausdruck des Protests gegen die Präsenz der Amerikaner in Kuba, gegen die Batista-Diktatur und zugleich als Lied gegen das Franco-Regime in Spanien. Ein Freiheitslied ist es immer noch, obwohl es sich scheinbar an ein Mädchen vom Lande wendet, an die »Frau aus Guantánamo«, deren Leben durch die Liebe verändert wird. In ihrer zweiten Satire auf Castros desolaten Staat schlagen die Regisseure Tomás Gutiérrez Alea und Juan Carlos Tabío besinnlichere Töne an als in dem furiosen Vorgänger ERDBEER UND SCHOKOLADE. Ihre Kritik ist deshalb aber nicht weniger scharf, beide Filme sind Renner in Kuba.

Wüßte man nicht, dass die Story auf Fakten beruht, könnte man dieser Groteske kaum Glauben schenken. Aber »all diese Absurditäten sind Teil unserer Realität«, sagen die Regisseure und führen uns in einem aberwitzigen Roadmovie quer über die Insel. Um der Benzinkrise zu begegnen, hat sich der Leiter des Bestattungswesens, Adolfo (Carlos Cruz), etwas einfallen lassen: Wer in der Fremde stirbt, muß in seine Heimat überführt werden, darauf besteht ein Anspruch. Muß der Leichentransport aber mehrere Provinzen passieren, heißt das: umladen an jeder Grenze, damit kein Bezirk von seiner Benzinration etwas abgeben muß. Dass die Hingeschiedenen verwechselt werden, ist vorhersehbar und gibt dem Leichenzug entsprechend tragikomische Brisanz.

Das lebenslustige Tantchen Yoyita (Conchita Brando) wird zum Testfall. Bei einem Besuch ihrer Nichte Georgina (Mirtha Ibarra) in Guantánamo, der in der Begegnung mit einem alten Freund aus Jugendtagen seinen aufregenden Höhepunkt findet, fällt sie plötzlich tot um, und das ist damit die erste Leiche, mit der Georginas Mann Adolfo seine Maßnahmen zur Benzinersparnis erproben will. Georgina begleitet die tote Tante und der treue Liebhaber Cándido (Raúl Eguren) ebenfalls. Ausgerechnet Havanna am anderen Ende der Insel ist das Ziel, da muß der Beerdigungswagen durch viele Bezirke geleitet werden. Es wird eine hindernisreiche Reise. Eine Autopanne ist noch das harmloseste, auch die Schwarzmarktgeschäfte des Chauffeurs sind Routine, bringen den Zeitplan schon gefährlich durcheinander. Was Adolfos Konzept dann aber tatsächlich kippen läßt, ist der plötzliche Leichenstau an mehreren Grenzen. Aber als niemand mehr weiß, in welchem Sarg welcher Tote liegt, ist das Chaos perfekt. Ebenfalls unterwegs auf der Strecke nach Havanna: Mariano (Jorge Perugorría) mit seinem Truck. Tag für Tag fährt er da lang, wen wundert's, dass der hübsche Kerl mit den faszinierenden schwarzen Augen die eintönigen Fahrten mit ein paar erotischen Abenteuern auflockert. Spaß macht ihm das aber alles nicht mehr.

Adolfo ist am Ende allein und begreift gar nichts. Um die Beerdigungsansprache zu halten, stellt er sich auf eine Säule, doch niemand hört ihm zu, denn ein Regenguß schlägt alle Trauernden in die Flucht. Zurück bleibt das traurige Monument eines lächerlichen Bürokraten.

So zielsicher die Kritik gegen die Misere in Kuba auch plaziert ist, der Film bewahrt sich eine fröhliche Grundstimmung und läßt nicht zuletzt durch den allgegenwärtigen »Guantanamera«-Song Hoffnung zu: auf mehr Menschlichkeit auch im maroden Kuba."

Carla Rhode in: Der Tagesspiegel 26.1.1996


Im Sarg durch Kuba

"»Wir werden uns nie mehr trennen«, seufzt Yoyita ihrem Jugendfreund Cándido ins Ohr. Dann haucht sie ihr Leben aus. In Cándidos Armen ist zweifelsohne ein schöner Abgang für die berühmte Sängerin, die nach fünfzig Jahren in das Städtchen Guantánamo zurückgekehrt ist. Als der freudlos gealterte Geliebte hört, dass Yoyitas sterbliche Reste Richtung Havanna transportiert werden sollen, faßt er einen Entschluß: Diesmal bleibt er nicht allein zurück. Gemeinsam mit Yoyitas Nichte Gina und deren Ehemann Adolfo besteigt er den klapprigen Wolga, der den Leichenwagen begleitet.

Der Trip über die von der Wirtschaftsmisere geplagte Insel wird zur Hindernisrallye. In den offiziellen Lokalen gibt's nur Kaffee und Tabak, dafür blüht der Schwarzmarkt. All dies ist für Adolfo ein Greuel, zumal er mit dem Transport einen ehrgeizigen Plan verfolgt. Der im Bestattungssektor tätige Funktionär will ein neues Konzept zur logischen Verteilung des Transportaufwandes erproben. So wird in jeder Provinz entlang der Route der Leichenwagen gewechselt. Gina findet Adolfos Konzept zwar hirnrissig, hat jedoch längst jegliche Kritik aufgegeben. Spätestens seit sie ihre Stelle als Unidozentin hinschmiß, glaubt Gina, dass für sie der Zug abgefahren ist. Da begegnet sie unterwegs Mariano, einem ihrer ehemaligen Studenten.

Nach ERDBEER UND SCHOKOLADE ist das satirische Roadmovie GUANTANAMERA die zweite Gemeinschaftsregie von Tomás Gutiérrez Alea und Juan Carlos Tabío. Auch zwei Darsteller sind wieder mit von der Partie: Als Gina verkörpert Mirtha Ibarra erneut eine attraktive Frau in der Mid-life-crisis, die von einem jungen Mann aus dem Trott gerissen wird. Der Glückliche ist diesmal Jorge Perugorría, der in ERDBEER UND SCHOKOLADE als koketter Schwuler das Publikum becircte.

Mit schonungsloser, aber gleichzeitig liebevoller und poetischer Ironie wird ein Kuba skizziert, das sich mit der Mischung aus Weiterwursteln und Überlebenskunst durch die Krise laviert. Adolfo verkörpert die gefühlsarme Charaktermasse des Apparatschik. Dagegen gibt der Leichentransport Gina den entscheidenen Kick, um über ihr inneres Dahinsiechen nachzudenken - und die Vitalität, die Tante Yoyitas Knochen entweicht, in Lebensenergie rückzuverwandeln.

Bettina Bremme in Tip Nr. 3 1996


Wie die Käfighamster

"Wer sich noch an ERDBEER UND SCHOKOLADE, den vor zwei Jahren überaus erfolgreichen Spielfilm von Tomás Gutiérrez Alea und Juan Carlos Tabío erinnert, wird in GUANTANAMERA, ihrem neuen Gemeinschaftsprodukt, Bekanntes wieder finden. Auf den ersten Blick zumindest. Wieder haben die kubanischen Regisseure eine von feinem Humor geprägte Geschichte zu erzählen, die von inhärenten Widersprüchen der Revolutionsbewegung und dem strikten Kuba-Bezug lebt.

Jorge Perugorría, Darsteller des schwulen Intellektuellen aus ERDBEER UND SCHOKOLADE spielt hier Mariano, einen gutherzigen Lastwagenfahrer und Halodri mit Hochschulbildung heading for Havanna. Erotische Zwischenstopps bei seinen über die Kaffs verteilten Freundinnen gehen ihm dabei gerne mal vor Transportroute und Frachtgut. Per Zufall kreuzt er eine Leichenwagenkarawane aus Guantanamo mit gleichem Ziel.

Zufälle im Film sind natürlich keine, und darum trifft er just Gina (Mirtha Ibarra), alte Flamme aus Uni-Tagen in Havanna, damals seine angehimmelte Professorin. Ginas Mann, ein in der Gunst gefallener Funktionär, hat den durch zahlreiche Landesteile führenden Leichenkonvoi samt Ginas toter Tante organisiert, als wäre es eine Staatsaktion oder zumindest ein Exempel der Planwirtschaft. Hofft er doch, sich per Effizienz aus dem degradierenden Posten als Bestatter zu rehabilitieren.

Viel Unterhaltsames, ökonomisch und landeskundlich Aufschlußreiches kommt dabei ins Bild: ernährungsmäßige Mangelsituationen, Schwarzmarktgeschäfte und immer wieder Pannen, Pleiten und Peinlichkeiten. Denn die turbulente Geschichte »basiert auf Fakten. Wir haben nichts erfunden. Sie sind Teil unserer alltäglichen Realität«. (Alea)

Statt der komödiantischen Gesellschaftsstudie von '93 nun eine Bürokraten-Farce samt Lovestory, die über Längen zum Slapstick gerät. Der Straßen-Film - Road-Movie -, die cineastische Pein des Jahrzehnts, ist auch für Alea und Tabío das Genre Label. Gib mir eine Road, einen oder mehrere Wagen und ich mach' dir das Movie. Das wichtigste Grundgesetz dieses Filmgenres beherzigt auch GUANTANAMERA: je länger der Weg, desto irrelevanter das Reiseziel.

Ob die tote Tante nun zu ihrem vorgesehenen Ruheplatz kommt oder nicht, ist irgendwann salopp gesprochen, schnurz. Man ergibt sich statt dessen dem karawanischen Phlegma der Fortbewegung. Nur Ginas Mann Adolfo, der seinem Namen alle chaplineske Ehre macht, turnt wie ein Käfighamster auf der Rolle - Höhepunkt ist eine absurde Rede, die er am Zielfriedhof hält. Während sein Publikum schnöde vor dem einsetzenden Platzregen flüchtet, harrt er ganz 'minimal líder' - im Dienst der Sache wild fuchtelnd auf einem Podest aus, das so hoch er allein kaum herunterkommen wird. Da steht er und kräht, der abgehalfterte Kader, allein mit sich und der Welt und ganz ohne Regenschirm. Der Soundtrack-bildende Titelsong, Symbol des Widerstandes gegen Franco, das Batista-Regime und auch den amerikanischen Stützpunkt in Guantanamo, ist dabei mehr als eine Reminiszenz."

Gudrun Holz in: Junge Welt 25.1.1996


Guantanamera

"'Guantanamera' ist ein Lied, das um die Welt gegangen ist. Bei dem süßlichen Liebeslied denkt man an unbeschwerte Urlaubstage unter südlicher Sonne. In Kuba jedoch, wo Joseíto Fernandez Díaz sein Lied über die Guantanamera, die Frau aus Guantánamo, 1941 schrieb, verbindet man damit noch etwas anderes. Jemandem die 'Guantanamera' singen, das heißt so viel wie: jemandem den Marsch blasen. Joseíto Fernández nämlich pflegte später, als er beim Radio arbeitete, singend politische Nachrichten zu präsentieren, verpackt in den Text seiner 'Guantanamera'.

Tomás Gutiérrez Alea, einer der wichtigsten Filmemacher des sozialistischen Kuba singt seine GUANTANAMERA mit filmischen Mitteln und wie immer mit Witz und satirischer Schärfe. Der nunmehr 67jährige Alea hat den Weg der kubanischen Revolution von ihren Anfängen an solidarisch, aber auch kritisch begleitet. Das war schon in DER TOD DES BÜROKRATEN so, mit dem er 1966 international bekannt wurde, das war zuletzt in ERDBEER UND SCHOKOLADE nicht anders, mit dem er 1994 in Berlin einen Silbernen Bären gewann.

Aleas GUANTANAMERA wirkt in Europa, wo man von sozialistischen Träumen Abschied genommen hat, wie ein Abgesang auf Kubas noch immer real existierenden Sozialismus. Wobei der genaue, analytisch scharfe Blick Aleas den kubanischen Sozialismus eher surreal erscheinen läßt. Aber Alea betont: »Wir haben die absurden Dinge nicht erfunden. Sie sind Teil unserer alltäglichen Realität.«

Alea und Co-Regisseur Juan Carlos Tabío erzählen ein makabres Road Movie: mit dem Leichenwagen quer durch Kuba. Im Mittelpunkt dieser treffenden und kurzweiligen Gesellschaftssatire steht der zum staatlichen Leichenbestatter degradierte Funktionär Adolfo. Er glaubt noch immer an die Ideale der Revolution und an die Wirksamkeit von Plänen. Selbst offensichtliche Desaster können ihn nicht beunruhigen: »Probleme gibt es immer, aber auch Lösungen«, meint er und sieht sich schon auf einem Denkmalsockel - als Held der Revolution. Er hat sich nämlich ein neues System für das kubanische Bestattungswesen ausgedacht. Leichname, die zwecks heimatlicher Beerdigung in eine andere Provinz gebracht werden müssen, sollen an den Provinzgrenzen umgeladen werden, um die Kosten für den weiteren Transport gerecht zwischen den staatlichen Bestattungsunternehmen zu teilen und Benzin zu sparen.

Als unverhofft die Sängerin Yoyita, die Tante seiner Ehefrau Gina, stirbt, kann Adolfo gleich die Wirksamkeit seines Bestattungssystems ausprobieren. Von Guantánamo in die Hauptstadt Havanna - Adolfo macht sich zusammen mit der toten Sängerin, mit seiner Frau, seinem Fahrer Tony und Cándido, dem Jugendfreund der Tante, auf die Reise. Unterwegs begegnen sie immer wieder dem LKW von Ramón und Mariano, einem Frauenheld, der in seiner Studienzeit in Adolfos Frau verliebt war. Am Ende der verunglückten Fahrt ist auch der alte Cándido tot, die tote Tante ist im komplizierten Leichenübernahme-System verschütt gegangen und Adolfo hat seine Frau an Mariano verloren. Dafür steht er aber endlich auf einem Denkmalsockel - allein und im Regen, auf dem Friedhof in Havanna, wo er bei einer Doppelbeerdigung salbungsvolle Worte findet für die falsche tote Tante und für Cándido, dessen Tod er zu verantworten hat.

Alea und Tabío, die schon die Regie bei ERDBEER UND SCHOKOLADE geteilt haben, zeigen ein Kuba, für dessen sozialistisches System es keine Zukunftschancen zu geben scheint. Zu offenkundig ist das wirtschaftliche und politische Versagen. Gina (gespielt von Aleas Ehefrau Mirtha Ibarra) verläßt Adolfo, den Funktionär: »Er begreift nicht.« Sie hat ihre Arbeit als Professorin für die politische Ökonomie des Sozialismus aufgeben müssen, war es aber auch leid, »immer mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen.« Sie will eine Radio-Sendereihe für Jugendliche übernehmen. »Aber nicht, um jemandem vorzuschreiben, was er zu denken hat.«

Während Adolfo uneinsichtig ist (»Jeder tut, was er will - wo kommen wir denn da hin«), hat seine Frau erkannt: »Es gilt einfach zu überleben. Hier ist die Theorie eine Sache, die Praxis eine andere.« Überleben können im heutigen Kuba, das zeigen Alea und Tabío, nur noch Leute, die sich durch kleine Privatgeschäfte auf dem Schwarzmarkt Dollars besorgen. Wenn Mariano und sein Kumpel Ramon mit ihrem LKW anhalten, um paar Anhalter mitzunehmen, dann stürmt gleich eine Menschenmenge auf die Ladefläche, als gelte es, die letzten Plätze auf einem Fluchtboot nach Miami zu erkämpfen.

Für dieses Kuba kann es eigentlich keine Zukunft geben. Doch obwohl Alea und Tabío dies in ihren Bildern unübersehbar, in ihren Dialogen unüberhörbar zeigen, schwingt in ihrer GUANTANAMERA ein versöhnlicher Grundton mit, getragen von einem liebevollen Blick auf die Menschen dieses Landes. Das Happy-End für Gina und Mariano, denen in ihrer Liebe eine bessere Zukunft offen zu stehen scheint, nimmt GUANTANAMERA viel von seiner kritischen Schärfe. Vermutlich hätte ein Film mit weniger versöhnlichem Humor die kubanischen Zensurinstanzen auch gar nicht passieren können. Vielleicht glauben Alea und Tabío aber noch an ein Happy-End für das sozialistische Kuba. »Mein ganzes Leben habe ich auf ein Wunder gewartet«, sagt der alte Cándido, der immer wieder eine Vision hat. Er sieht ein altes Plakat, auf dem ein kleines Mädchen für den 'Socialismo' wirbt. Es ist seine Jugendliebe Yoyita, die jetzt tot im Sarg von Adolfos staatlichen Beerdigungsunternehmen liegt. Zu Beginn von 'Guantanamera', dem ursprünglich unpolitischen Welthit von Joseíto Fernández heißt es: »Ich bin ein aufrichtiger Mensch und komme von dort, wo die Palmen wachsen. Bevor ich sterbe, möchte mein Seele das besingen, was sie quält...«"

Detlef Kühn: in: EPD Film Nr. 2 1996, S. 37


Es geht eine Leiche auf Reisen

"Das Regieteam, das FRESA Y CHOCOLATE (1994) zum internationalen Erfolg steuerte, zeichnet auch für diese Produktion verantwortlich. Den Schauplatz haben Tomás Gutiérrez Alea und Juan Carlos Tabío diesmal von Havanna in die tiefste Provinz verlegt. Zudem übernimmt in GUANTANAMERA ein Leichnam die Hauptrolle. Dennoch dreht sich der neue Spielfilm aus Kuba um nichts Geringeres als Leben. Und zwar um das intensiv gelebte Leben, das sich vor dem Tod in die Leidenschaft der Liebe rettet. Die alte Geschichte. Aber so frisch erzählt, dass man ihrem Reiz kaum widerstehen kann.

Der Titel knüpft direkt ans weltberühmte gleichnamige Lied an, dessen Refrain in der Originalversion nach einem Text des kubanischen Nationalhelden José Martí gesungen wird. Im Kuba der fünfziger Jahre variierte der beliebte Radiomoderator Joseíto Fernández die Strophen je nach Tagesaktualität. Er verpackte Brisantes, über das man besser nicht öffentlich sprach, in die Melodie und die Rhythmen des bekannten Songs. Die beiden Regisseure führen dieses Spiel nun fort und unterlegen die populäre Leitmelodie mit hintergründigen Texten. Sie greifen auch auf das reiche Repertoire der afrokubanischen Musik zurück und lassen diese etwa zu einer uralten Yoruba-Legende erklingen, die auf der Zuckerinsel das Wechselspiel zwischen Tod und Leben erklärt: Olofi schuf das Leben, heißt es darin. Der Schöpfergott vergaß, den Tod zu erschaffen. Doch ein Mensch, der ewig lebt, weiß das Leben wenig zu schätzen. Also mußte auch noch der Tod erfunden werden und unter die Menschen geschickt werden. Eine für das Sterben verantwortliche Göttin wacht seither streng darüber, dass jedes Leben einmal zu Ende geht.

Doch zurück zur turbulenten Handlung des Films. Ginas Tante, die in Havanna Karriere als Sängerin machte, besucht nach fünfzig Jahren ihr Heimatdorf Guantánamo und findet dort ihre große Jugendliebe wieder, einen Musiker. Im Taumel des Wiedersehens stirbt sie glückselig in den zitternden Armen ihres gealterten Geliebten (Raúl Eguren). Von Trauer überwältigt, besteht dieser darauf, Gina und ihren Mann (Mirtha Ibarra und Carlos Cruz) bei der Überführung der sterblichen Überreste ins weit entfernte Havanna zu begleiten. Adolfo, ein strebsamer Funktionär der staatlichen Bestattungsbehörde, hat kurz zuvor eine neue Verfügung in seinem Amt durchgeboxt, die den knappen Treibstoff unter den Beerdigungsunternehmen der Insel gerecht aufteilen soll. Leichenwagen dürfen fortan nur innerhalb ihres Distriktes operieren. Bei Langstreckentransporten muß der Sarg an jeder Distriktgrenze umgeladen werden. Durch den jähen Tod seiner nahen Verwandten im abgelegenen Guantánamo eröffnet sich Adolfo die Chance, selber als genialer Stratege einer solchen Leichenwagenstaffel in Aktion zu treten.

Auf dieser Route ist zufällig auch der Ingenieur Mariano unterwegs, der sich in diesen schwierigen Zeiten als Lastwagenchauffeur durchschlägt. Der Zufall will es, dass er dabei gleich mehrmals seiner ehemaligen Ökonomieprofessorin Gina begegnet, für die er als Student so sehr schwärmte. Plötzlich weiß er wieder, für wen sein Herz wirklich schlägt. Der notorische Frauenverführer, seiner amourösen Abenteuer überdrüssig, begehrt jetzt nur noch die eine. Aber Gina hat schon einen Mann, und der wacht eifersüchtig über sie. Natürlich nimmt die Leidensgeschichte schließlich eine glückliche Wende, und Ginas starrköpfiger Mann bleibt allein im Regen stehen.

Die bürokratischen Hürden des Leichentransports scheinen bisweilen auch den Schwung der Inszenierung zu lähmen, und die Story holpert ein paarmal heftig über dramaturgische Schlaglöcher. Obwohl GUANTANAMERA die hochgeschraubten Erwartungen nach dem Welterfolg von FRESA Y CHOCOLATE nicht ganz zu erfüllen vermag, tun solche formalen Mängel - sie bleiben sozusagen im rhythmischen Gleichklang mit der Geschichte - dem Vergnügen keinen Abbruch. Die warmherzige Politsatire bringt auch das Kunststück fertig, Kritik an den herrschenden Zuständen auf der schlingernden Insel in eine Liebeserklärung an die Menschen von Kuba zu verkleiden."

Ines Anselmi in: Neue Züricher Zeitung 28.12.1995


52. Filmfestspiele Venedig 1995:

"Eine Art Roadmovie aus dem Kuba von heute präsentierten Tomás Gutiérrez Alea und Juan Carlos Tabío Rey mit GUANTANAMERA (Kamera: Hans Burmann ). Die Regisseure des weltweit erfolgreichen ERDBEER UND SCHOKOLADE machen sich lustig über die Bürokratie in ihrem Land, mischen subtile Kritik an der Absurdität des Alltags mit einer Liebesgeschichte und dem Nachdenken über den Tod."

Margret Köhler Triumph für Götz George. Festivalbericht 52. Internationale Filmfestspiele Venedig. In: Film & TV Kameramann, Nr. 10 1995, S. 80


52. Filmfestspiele Venedig 1995:

"When a film stands with no doubts inside a definite cinema genre; in this case the comedy; it's often very difficult to consider ist aesthetic qualities and its artistic values; The humour; the gags; the comicality of its characters inevitably tends to get the upper hand of the style choices used by the director; of the sign of his presence; This doesn't mean intelligent and new comedies can not be made but certainly Guantanamera; can not be included among these.

With this we don't want to deny the true value of the film that keeps being very amusing if not even exhilarating at times. Anyway it's not able to come out of the most traditional and conventional schemes of the genre even if there are many elements the story offered its directors to delve more deeply into a reality more involved than simple character studies.

The story takes its inspiration from the famous Cuban song that has here been specially adapted for the film and that stresses the title credits and with its new words acts like a drop curtain between the scenes and as a commentary on the story; As a matter of fact there are two stories that walk side by side and meet sometimes on the road the characters go along in order to reach La Habana from Guantánamo on the extreme end of the isle; Bureaucracy seems to render life difficult even in Cuba; Gina and her husband Adolfo must escort the corpse of an old friend with her young lover along a trip that for gas rationing in the country has many halts with car changes and coffin transfers; On the contrary Mariano is a truck driver with lovers in any place he stops He by mere chance was a student and secret lover of Gina when she was teaching at the university; To make it short going through Mariano's picaresque erotic meetings and chicken and bananas illicit trades of the funeral car driver; the two heroes will end by revealing each other their never extinguished love and will act a merry rebellion against the system in which the hateful Adolf; the only bureaucrat among the characters will pay the expences; Unfortunately all that the film leaves us is a great sympathy toward Latin-American people, their vitality; humanity and simplicity; but this is another story and we already knew and loved it."

Massimo Chirivi, 2.9.1995 for Film.com/Point of Presence (italys@webcom.com) http://www.film.com/filmfests 52. Venezia In Competition


"Eine zweite Flaschenpost aus dem Kuba unserer Tage: als Komödie. Nach dem auf der Berlinale 1993 ausgezeichneten Kammerspiel ERDBEER UND SCHOKOLADE haben die Kubaner Tomás Gutiérrez Alea und Juan Carlos Tabío mit GUANTANAMERA ein episches Roadmovie, eine satirische Ballade gegen die herrschende Bürokratie gedreht. Der ökonomische Sparkurs zur castristischen Machterhaltung läßt einen Leichentransport quer durch die Insel zur Groteske werden. Damit Benzin gespart wird, muß die Leiche an der jeweiligen Bezirksgrenze umgeladen werden; dass sie am Ende verwechselt wird, versteht sich. Mit diesem roten Faden knüpfen die Regisseure zahllose Episoden, an denen der komische Leichenzug in Begleitung eines wichtigtuerischen Bürokraten innehält und den desolaten Zustand des Landes mit einem lachenden und einem weinenden Auge offenbart.

Saftige Erotik, späte Liebe, unerlöste Sehnsucht und satirische Grotesken: Alea/Tabío eröffnen einen erstaunlichen Einblick in das marode Endstadium der kubanischen Revolution; nicht im Tempo furioso ihres früheren Films, eher verlangsamt. Wenn am Ende der Bürokrat mit einer Leiter auf eine Säule steigt, um von dort herab seine salbungsvoll-verlogene Rede auf die 'teure Verblichene' zu halten, öffnet der Himmel seine Schleusen, und das Großmaul steht hilflos, allein, von allen verlassen, auf dem falschen Monument seiner Größe. Man glaubt sich auf diesem kubanischen Friedhof plötzlich an den Sarkasmus von Staudtes UNTERTAN erinnert: das kleine Abbild des isolierten Maximo Leader, durchnäßt von der Geschichte. Der Song Guantanamera, der als Ballade den Film begleitet und kommentiert, war einst das Siegeslied der Helden der Sierra Maestra; der Film GUANTANAMERA stimmt nun ein auf einen satirischen Abgesang des einzigen sozialistischen Staates auf lateinamerikanischem Boden. Jedoch: Was wird danach kommen? Neorealistische Melodramen."

Wolfram Schütte: Erinnerungen und Flaschenpost-Nachrichten. Filme aus Italien, Nordirland, Iran und Kuba auf der Mostra Internationale del Cinema. In: Frankfurter Rundschau 4.9.1995


Festival des Neuen Lateinamerikanischen Films, Havanna 1995

"Selbst dem Erfolgsteam Tomás Gutiérrez Alea und Juan Carlos Tabío, dem vor zwei Jahren mit ERDBEER UND SCHOKOLADE einer der wichtigsten kubanischen Gegenwartsfilme gelang, war kein Glück beschieden. Zwar wurde ihre neue Komödie GUANTANAMERA von den Kubanern viel bejubelt und von der Jury mit dem zweiten Hauptpreis ausgezeichnet; aber die Verwicklungen bei einer Überführung einer Leiche von einem Ende der Insel zum anderen verdichten sich nicht zu einer wirklichen Abrechnung mit der überall wuchernden Bürokratie, wie sie Gutiérrez Alea schon einmal vor rund dreißig Jahren mit seinem TOD EINES BÜROKRATEN gelungen ist."

Peter B. Schumann: Verrückt nach Kino, sogar dem eigenen. Leistungsschau des lateinamerikanischen Films auf dem 17. Festival von Havanna in: Frankfurter Rundschau. 22.12.1995



Letzte Bearbeitung VP 29.1.2016

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Graphik: Uwe Kupka

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