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Kontinuität und Bruch
Interview mit Tomás Gutiérrez Alea

von Senel Paz

Senel Paz: Welche Bedeutung geben Sie in ihrem Gesamtwerk BIS ZU EINEM GEWISSEN PUNKT?

Tomás Gutiérrez Alea: "Es ist mein letztes Werk. Ich glaube, dass es von der theoretischen Suche geprägt ist, die ich in dem Buch 'Die Dialektik des Zuschauers' realisierte. Sie bezieht sich auf die Absicht, in die Materie einzudringen oder eine Synthese oder Aneinanderreihung von Lektüreebenen im Film zu geben. Diesen Versuch unternahm ich schon in anderen Filmen und dachte, dass ich diesmal durch das Video weiter vorankommen könnte, das dem Bild eine andere Struktur gibt. Das Video erlaubte uns auch, viel aufzunehmen, denn es gibt keine Kostenprobleme mit dem Film. Deshalb hatten wir große Freiheit in dem ganzen Dokumentarteil. Diese Tatsache scheint mir in unserem Kinobetrieb wichtig zu sein: in demselben Werk Dokumentar- oder Zeugnis- und Spielcharakter zu vereinigen. Diese Aneinanderreihung ergibt ein reicheres Bild von der Wirklichkeit, als man es ausdrücken will. Es erschöpft sich in keiner der beiden isolierten Linien: weder im Zeugnischarakter noch in der Spielfunktion. Der Film IN GEWISSER HINSICHT ist eine direkter Vorläufer dieses Films. Sogar im Titel gibt es einen gewissen Anklang an diesen Filmtitel von Sara Gómez, den ich bewundere und für ein bedeutendes Werk unseres Kinos halte."

Senel Paz: "Wie entstand die Idee zu BIS ZU EINEM GEWISSEN PUNKT?"

Tomás Gutiérrez Alea: "Eine meine Absichten war es, das Problem zu formulieren, dass der Machismo sich nicht nur auf das Verhältnis zwischen Mann und Frau bezieht, sondern dass er etwas viel Komplizierteres ist, nämlich eine Lebenshaltung, bei der auch andere Faktoren eine Rolle spielen. Schon die einfache Aufzeichnung war meiner Meinung nach nützlich. Das war die spezielle Absicht bei der Behandlung dieses Themas. Aber in Wirklichkeit wollte ich auf andere Punkte zu sprechen kommen, die mir grundlegend erscheinen. Sie stehen im Mittelpunkt des Films, wie z.B. der Gegensatz zwischen den Intellektuellen und den Arbeitern in unserer Gesellschaft. Unter den Intellektuellen wählte ich den mir Nächststehenden aus, d.h. einen Filmmann, und über ihn spreche ich, weil ich ihn am besten kenne. Was den Bereich der Arbeiter angeht, sahen wir, dass dieser Sektor am geeignetsten für diesen Film war., d.h. um diesen Personenkontrast zwischen verschiedenen sozialen Gruppen zu zeigen. Wir wählten den Hafen aus, weil unser Meinung nach die Arbeiter dort ziemlich gut darstellten, was unser Proletariat ist. Es ist im Wesentlichen kein Industrieproletariat, weil es sich um kein entwickeltes Land handelt. Hier ist das Industrieproletariat in der Minderheit. Es ist ein Beruf, der sich traditionell von Generation zu Generation vererbt hat (…) Ich glaube, die Auswahl war gut getroffen, denn dort fanden wir genau das, was wir suchten."

Senel Paz: "Bedeutet der Film einen Wechsel in ihrer Thematik, eine Wendung oder Öffnung zu anderen Problemen?"

Tomás Gutiérrez Alea: " BIS ZU EINEM GEWISSEN PUNKT erscheint mir deswegen wichtig, weil er ein aktuelles Thema aufnimmt. Die Widerspiegelung unsere aktuellen Wirklichkeit ist das Wichtigste und Dringlichste für mich, obwohl es auch wichtig ist, historische Filme zu drehen, die viele Licht auf unsere Vergangenheit werfen, um eine korrekte Deutung unserer Geschichte zu treffen. Aber das Problem liegt darin, dass der Film eine Direktheit hat, die Aspekte der Wirklichkeit auf eine sehr unmittelbare und sehr dokumentarische Weise einzufangen erlaubt. Dieser Gesichtspunkt oder diese Möglichkeit des Kinos zwingt uns, diese Augenblicke nicht verstreichen zu lassen. Deshalb glaube ich, dass man Filme mit aktueller Thematik drehen soll, obwohl es die schwierigsten sind. Es gibt - vielleicht aus Konvention oder aus der Dringlichkeit der Arbeit heraus - eine Tendenz, Stoffe aus der Vergangenheit zu nehmen, da man sie mit mehr Objektivität oder weniger Risiko abzuhandeln glaubt. Wenn man ein aktuelles Thema behandelt, besteht immer die Möglichkeit, Empfindlichkeiten zu verletzen, denn in einem Film kommen die Widersprüche zur Sprache. Diese Widersprüche kommen durch Personen zum Ausdruck; und diese Personen stellen ihrerseits eine bestimmte soziale Gruppe dar. Nun gut, einige Leute haben gesagt, dass ich in dem Film BIS ZU EINEM GEWISSEN PUNKT die Intellektuellen schlecht behandle. Das stimmt nicht. Das ist eine Kritik, in die auch ich verwickelt bin, und es scheint mir eine gesunde kritische Haltung zu sein."

Senel Paz: "Wie entwickelt sich das Drehbuch? Nehmen Sie immer lieber selbst an dieser Arbeit teil?"

Tomás Gutiérrez Alea: "Die Arbeit des Regisseurs scheint mir untrennbar von einer wenigstens gewissen Teilnahme am Drehbuch zu sein. Ich weiß, dass man in einer entwickelten Filmindustrie jede Arbeitsetappe einzuteilen pflegt, denn man bildet eine industrielle Kette. Der Drehbuchautor schreibt das Drehbuch allein, der Regisseur führt nur Regie, und der Verleiher verleiht allein. Hier bei uns nimmt der Regisseur meist an allen Etappen teil und leitet die Arbeitsphasen; d.h. er übernimmt die Hauptverantwortung für den Film. Ich arbeite mit Juan Carlos Tabío zusammen, der soeben bei einem Film Regie geführt hat, der meiner Meinung nach in jeder Hinsicht ein großer Erfolg sein wird. WOHNUNGSTAUSCH . Er arbeitete mit Serafín Quiñones, ein relativ junger Schriftsteller, mit mir am Drehbuch. Wir entwarfen ein Schema und entwickelten einige Szenen, wohl wissend, dass das Drehbuch sich im Verlauf der Dreharbeiten ändern müsse. Das einzige, was wir ziemlich klar skizziert hatten, war die Liebesgeschichte zwischen dem Drehbuchautor und der Arbeiterin, den zweiten Handlungsstrang. Es handelt sich sonst nur um eine Skizze, die sich von Tag zu Tag während der Dreharbeiten erweiterte."

Senel Paz: "Welche Erfahrungen machten Sie mit der Musik?"

Tomás Gutiérrez Alea: "Ich ging von der Form eines baskischen Liedes aus, das sehr schön ist und das vor allem einen Text hat, den ich seit Jahren im Kopf hatte. Die Geschichte nimmt ein wenig von diesem Lied ihren Ausgang, das in sehr einfachen Versen sagt: 'Wenn ich wollte, könnte ich dir die Flügel abschneiden, und dann gehörtest du mir; aber du könntest nicht fliegen und das, was ich liebe, ist der Vogel'. D.h. in diesen vier oder fünf Versen ist der Widerspruch einer Liebessituation aufgezeigt: der Besitzanspruch einer Person durch die andere und gleichzeitig die Notwendigkeit, dass jeder seine Identität bewahrt, denn man liebt etwas wegen seiner Identität (...). Dabei stießen wir auf die folgenden Schwierigkeit: Es handelt sich um baskisches Lied, das uns und unsere Kultur sehr fremd anmutet. Denn es geht nicht nur um den Klang der Sprache, sondern auch um die Melodie des Liedes selbst, das nichts mit der kubanischen Musik zu tun hat. Ich wollte, dass dieser Film wegen der Atmosphäre einen sehr volkstümlichen Charakter hätte. Dann entschied ich auf jeden Fall, dass ich das baskische Lied nicht aufgeben würde; aber gleichzeitig schob ich während des ganzen Films Elemente kubanischer Volksmusik ein. Man hört Benny Moré, die Gruppen Los Van Van und Irakere. In jedem Augenblick ist die Musik Teil der Klanglandschaft in der Stadt, in dem Milieu, in dem sich die Handlung entwickelt, und immer ist sie in Hinblick auf den Text beabsichtigt."

Senel Paz: "Was würden Sie an dem Film möglicherweise umarbeiten?"

Tomás Gutiérrez Alea: "Am schwierigsten ist in dem Film die Beziehung zwischen dem Dokumentargehalt und der Handlung, die im Wesentlichen durch den Widerspruch zwischen dem Regisseur und dem Drehbuchautor abrollt. Die Beziehung zwischen dem Drehbuchautor und dem Regisseur haben wir scheinbar nicht genügend herausgearbeitet. Sie ist einfach nur angedeutet, und ich glaube, dass es sich lohnte, sie weiter zu treiben. Aber ich hätte dann viele Dinge ändern müssen. Ich hätte den Film von Anfang an neu machen müssen, was keinen Sinn hat. Ich lasse ihn lieber so. Ich glaube, dass er bis zu seinem jetzigen Ende Gültigkeit hat. Dieser selbe Ausdruck der Unzufriedenheit, den der Film beim Zuschauer hervorrufen kann, scheint mir nicht so schwerwiegend zu sein."

Areito, Bd. 10, Nr. 37, New York 1984 (zit. n.: Con-Film, Cubanische Filmwoche, Bremen 1989, S. 22)



Letzte Bearbeitung VP 29.1.2016

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