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Tomás Gutiérrez Alea | Biographie | Filmographie | Interviews

>Ein Gespräch mit den beiden kubanischen Filmregisseuren
Tomás Gutiérrez Alea und Juan Carlos Tabío

von Ramon Farrés

"Der Film FRESA Y CHOCOLATE (ERDBEER UND SCHOKOLADE) war das große Kinoereignis dieses Jahres in Kuba und wurde auch während der Internationalen Filmfestspiele im Februar d.J. [1994] in Berlin von Publikum und Kritik einstimmig gefeiert und mit einem Silbernen Bären ausgezeichnet. Die Geschichte der spannungsreichen Beziehung zwischen einem unbequemen schwulen Künstler und einem überzeugten jungen Kommunisten in Havanna wurde von Tomás Gutiérrez konzipiert, einem der angesehensten Filmemacher Kubas. Aber das 'Schicksal' - in Form einer chirugischen Operation - zwang Gutiérrez Alea, die Regiearbeit mit einem jüngeren Kollegen zu teilen: Juan Carlos Tabío. Der erfahrene Gutiérrez Alea - von seinen Freunden 'Titon' genannt - hebt jedoch bei jeder Gelegenheit die doppelte Urheberschaft des Films hervor, auch wenn sie lediglich die Folge dieses Zwischenfalls ist. Nach seiner Auffassung wäre der Film ohne die Beteiligung von Tabío nicht das geworden, was er ist. Folgerichtig besteht Gutiérrez Alea darauf, über seinen Film zusammen mit seinem Koregisseur zu sprechen."

Ramon Farrés: Die Hauptfigur in FRESA Y CHOCOLATE, der Schwule Diego, trifft am Ende die Entscheidung, aus Kuba auszureisen, weil er seine Kreativität auf der Insel nicht frei entfalten kann. Sie machen dagegen ihre Filme weiter in Kuba. Was unterscheidet Sie von Diego?

Juan Carlos Tabío: Zunächst muss man sagen, dass Diego zur Emigration gezwungen wird: man hat ihn gefeuert und jede Tätigkeit im Kulturbereich wird ihm verweigert, so dass er in der Landwirtschaft oder auf dem Bau arbeiten müßte. Er wird als Schwuler und als Dissident unterdrückt und muß gehen, um weiter so sein zu können, wie er ist, um seine Ausstellungen in Barcelona, Bogotá oder anderswo zeigen zu können. Unsere Situation ist anders. Wir sind nicht schwul und haben nicht unter diesem gesellschaftlichen Druck, unter dieser Ablehung gelitten, die einmal in Kuba den Homosexuellen entgegengebracht wurde. Wir bleiben in Kuba, weil wir unsere Funktion darin sehen, Filme zu machen, die unser Volk zum Nachdenken bringen, denn wir wollen uns kritisch mit solchen gesellschaftlichen Problemen auseinandersetzen.

Tomás Gutiérrez Alea: Man muss auch berücksichtigen, dass die Situation, die Diego erlebt, heutzutage nicht mehr vorhanden ist. Er würde wegen seiner impulsiven und hyperkritischen Haltung weiter Probleme haben, aber nicht wegen seiner Homosexualität. Vor einigen Jahren wurden bedeutende Kulturschaffende als Homosexuelle diskriminiert., aber heute nicht mehr. Im Gegenteil: schwule Künstler genießen heute Anerkennung und repräsentieren Kuba sogar in offiziellen Funktionen. Die Handlung des Films spielt vor 15 Jahren: Es gibt eine Schüsselszene, die das zeigt, als im Fernsehen über die Flucht Somozas aus Nicaragua berichtet wird. Das war im Jahre 1979.

Ramon Farrés: Manche haben FRESA Y CHOCOLATE mit den Filmen des französischen Regisseurs Eric Rohmer verglichen - wohl eine sehr eurozentrische Sicht. Was sind in Wirklichkeit ihre filmischen Vorbilder gewesen?

Tomás Gutiérrez Alea: Im Grunde genommen gab es keine stilitischen Voraussetzungen. Wir wollten einfach unsere Geschichte so klar wie möglich, so effektiv wie möglich erzählen, ohne einen zwanghaften Einsatz filmischer Mittel: Bildausschnitt, Kameraführung, Montage ... Jedes Mal, wenn wir eine Szene drehen wollten, haben wir sie erst mit den Schauspielern inszeniert und dabei spontan entschieden, wie wir sie dann filmen würden. Es gab also im Voraus keinen stilistischen Vorsatz. Die Geschichte besitzt für sich selbst genug Kraft und Interesse, und es war nicht nötig, sie mit formalistischen Absichten auszuschmücken.

Juan Carlos Tabío: Diesen Film kann man nicht einem bestimmten Genre zuordnen: Er ist wie das Leben selbst, wo mal gelacht, mal geweint wird. Sonst nichts. Andererseits muß man sagen, dass es noch eine relativ frische Arbeit ist, so dass wir noch über keine kritische Sicht über sie verfügen. Wir wissen nocht nicht, warum viele Sachen im Film so geworden sind, wie sie sind, da der Schaffensprozeß in großem Maße unbewußt verläuft. Andernfalls wäre es keine künstlerische Kreation.

Ramon Farrés: Sie gehören beide einem Team namens "Rociante" an. Wie soll man sich die Arbeit in der Gruppe vorstellen?

Tomás Gutiérrez Alea: In Kuba liegt die Produktion von Filmen bei einer staatlichen Institution, dem ICAIC (Instituto Cubano del Arte e Industria Cinematográfica) . Zum ICAIC gehören alle technischen und künstlerischen Teams - mit Ausnahme der Schauspieler, die durch Verträge engagiert werden -, also die Regisseure, Produzenten, Kameraleute, Tontechniker ... Die Regisseure sind in drei kreative Gruppen versammelt. Unsere heißt 'Rociante' und ihr gehören außer uns beiden noch fünf weitere Regisseure an. Diese Gruppen funktionieren größtenteils wie eine Werkstatt, jede neue Idee wird den anderen Gruppenmitgliedern vorgetragen, die sie mit eigenen Anregungen und Vorschlägen bereichern. Daraus entsteht ein Drehbuchentwurf, der dann dem ICAIC vorgelegt wird, um die Produktionsgenehmigung zu bekommen. Mit diesem System haben wir sehr gute Ergebnisse erreicht, denn jedes Projekt kommt beim ICAIC schon sehr ausgereift an, und wenn es trotzdem abgelehnt wird, ist dessen Verteidigung effektiver, da sie nicht von einem Einzigen, sondern von einer Gruppe von Filmemachern kommt. Diese kreative Gruppen funktionieren als Vorinstanz für die Annahme eines Projekts und gleichzeitig als ästhetische Werkstatt.

Ramon Farrés: FRESA Y CHOCOLATE hat den Preis des Festivals von Havanna bekommen, und in Europa wurde der Film mit einem Silbernen Bären auf der Berlinale ausgezeichnet sowie vom Publikum und von der Fachpresse einstimmig gelobt. Was hat das für Sie bedeutet?

Tomás Gutiérrez Alea: Es wäre gelogen zu sagen, dass uns die Preise nicht interessieren. Sie sind wichtig, weil sie eine Anerkennung unserer Arbeit bedeuten, und außerdem erleichtern sie den Verleih des Filmes. Mit einem Preis wie dem in Berlin gibt es mehr Filmverleiher, die sich für den Film interessieren, und das bedeutet, dass er mehr Zuschauer haben wird. Und da wir den Film gemacht haben, damit ihn die Leute ihn sehen, heißen wir die Preise willkommen!

Ramon Farrés: Die aktuelle Situation des kubanischen Kinos ist sehr prekär. Wie sehen Sie ihr professionelle Zukunft? Werden Sie weiter unter normalen Umständen arbeiten können?

Juan Carlos Tabío: Wir denken ja. Die Koproduktion sind dabei eine große Hilfe, wie im Fall von FRESA Y CHOCOLATE mit Spanien und Mexiko. Die Devisen erhöhen sehr die Produktionschancen. Wir haben in Kuba die ganze technische Infrastruktur, von den Kameras und den Tongeräten bis hin zu den jeweiligen Fachleuten, und auch an Ideen mangelt es uns nicht. Das einzige, was fehlt ist das Geld. Deswegen werden bevorzugt billige Filme gedreht, ohne komplizierte Produktionsverfahren. Nichtdestotrotz wird noch ab und zu der eine oder andere komplexe Film gedreht, wie neulich EL SIGLO DE LAS LUCES nach dem Roman von Alejo Carpentier, in einer Koproduktion mit Frankreich, Spanien und Rußland.

Tomás Gutiérrez Alea: Uns interessiert aber weiterhin die Art von Kino, die unsere unmittelbare Realität anspricht, sei als Kommödie oder als Drama. Das heißt jedoch nicht, dass nicht auch Filme anderer Genres in Kuba gedreht werden: Musicals, Liebesgeschichten ..., je nach den Interessen des jeweiligen Regisseurs.

Ramon Farrés: Sie beziehen sich auf die unmittelbare Realität. In FRESA Y CHOCOLATE wird aber ein Aspekt des heutigen Kuba nur ganz am Rande erwähnt: die Situation der schwarzen Bevölkerung und der latente Rassismus in der Gesellschaft der Insel.

Juan Carlos Tabío: Man darf nicht vergessen, dass die Situation der schwarzen Bevölkerung sich nach der Revolution radikal geändert hat. Vorher herrschte in Kuba, eine Art Apartheid, mit privaten Clubs, wo kein Schwarzer Eintritt hatte, und so weiter. Das gab's nach der Revoltion selbstverständlich nicht mehr. Was aber nicht ganz verschwand, war der verborgene Rassismus. In Kuba gab es vier Jahrhunderte lang Sklaverei, und man könnte sagen, dass die Weißen Nachfahren der Sklavenhalter und die Schwarzen Nachfahren der Sklaven sind. Das ist irgendwie in der Psychologie der Menschen geblieben. Mit der Zeit nehmen die Mischehen zu, aber es existiert immer noch der latente, irrationale Rassismus, der einen liberalen Weißen dazu bringt, die Heirat seiner Tochter mit einem Schwarzen zu missbilligen.

Ramon Farrés: Wie wird Ihrer Meinung nach die politische und wirtschaftliche Krise in Kuba ausgehen? Sind Sie eher optimistisch oder pessimistisch?

Tomás Gutiérrez Alea: Weder das eine noch das andere. Ich glaube, dass ein Kurswechsel und eine Dynamisierung unserer Volkswirtschaft stattfinden muss. Ich bin kein Ökonom und auch kein Politiker, aber die Zukunft meines Landes macht mir Sorgen. Ich bin allerdings davon überzeugt - so wie die große Mehrheit der kubanischen Bevölkerung -, dass die Rückkehr zum Kapitalismus keine Lösung sein würde. Die Revolution hat sehr große soziale Fortschritte gebracht, vor allem wenn man es im lateinamerikanischen Kontext betrachtet, und es wäre sehr schmerzhaft, auf diese Fortschritte verzichten zu müssen. Ich glaube aber auch, dass man die wirtschaftlichen Probleme realistisch angehen muß, aber wir werden schon eine Lösung finden."

Interview: Ramon Farrés in: Tranvia, Nr. 34, September 1994, S. 36-37



Letzte Bearbeitung VP 29.1.2016

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