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Tomás Gutiérrez Alea | Biographie | Filmographie | Interviews

Die Realität bereichern

Tomás Gutiérrez Alea: "Warum MEMORIAS DEL SUBDESARROLLO? Ich erinnere mich, dass wir alle in der ersten Zeit unmittelbar nach der Revolution glaubten, diese Insel, die früher 'Korkinsel' genannt wurde, könne von heute auf morgen zu einer Art karibischen Schweiz gemacht werden. Dies, ohne dass sich unsere tropische Phantasie, unser revolutionärer Elan, unsere noch unscharfen Erkenntnisse hätten verändern müssen: alles schien in Reichweite. Wir hatten alles, was wir brauchten: Menschen, Waffen, Enthusiasmus und die Möglichkeit, ein Land ganz neu aufzubauen. Als eine der ersten Dinge verbrannten wir die großen Zuckerrohrfelder, weil wir auf diesem Boden irgend etwas anderes anpflanzen wollten. Unsere landwirtschaftliche Produktion sollte vielseitig werden. Dann kamen die Schwierigkeiten mit der Industrialisierung. Alles wollten wir herstellen, von Fotoapparaten bis zu Autos. Dieser anfängliche Enthusiasmus ist reich an Situationen, auf die wir heute mit einem gewissen Humor zurückblicken können. In anderen Fällen waren die Folgen eher tragisch. Insgesamt war das eine durch nichts zu ersetzende Erfahrung, die uns mehr als Haufen Bücher gelehrt hat. Zunächst begriffen wir, dass wir - und das war die Schwierigkeit - ein Agrarland sind. Dass wir, um verschiedene Produkte anzubauen (der erste Schritt zur ökonomischen Unabhängigkeit), Zeit brauchten. Dass wir kein Handel treiben konnten, wenn wir die bisherige Grundlage unserer Landwirtschaft, das Zuckerrohr, vernachlässigten. Dass wir zur Industrialisierung (dem nächsten Schritt) noch viel mehr Zeit brauchten und dass wir während dieser Zeit nicht von Bedingungen eines Agrarlandes absehen durften. Dass wir ein zurückgebliebenes armes, ausgebeutetes Land waren, dass wir eine Insel sind (auch das ist wichtig), dass wir »unterentwickelt« waren. Das heißt, wie gehören zur sogenannten Dritten Welt, zur großen Legion der Verdammten dieser Erde ...

Aber das Unterentwickeltsein ist nicht alles. Es ist interessant, weil es neben der anderen, positiven Seite unserer Realität steht, der Revolution. Beide Seiten sind die Voraussetzungen unserer Persönlichkeit, unseres Engagement, unserer Handlungen. Sie gehören zusammen, weil sich mit der Revolution identifizieren heißt, die Bürde dieses Unterentwickeltseins auf sich zu nehmen. In dem Kampf, diese Bedingungen zu sprengen, setzt die Revolution allerdings ihre Exitenz selbst aufs Spiel (und die individuelle Existenz all deren, die sie tragen). Denn es gibt natürlich auch die andere Möglichkeit: den Zustand der Unterentwicklung individuell zu beenden, das heißt, in andere, fortgeschrittenere Länder zu flüchten. Was nicht immer bedeutet, etwas zu erreichen, aber immer, etwas aufzugeben.

Die Hauptperson des Romans und des Films bewegt sich zwischen dieser Alternative: das Individuum gegenüber der Revolution, die Zivilisation gegenüber der Unterentwicklung; das Haus, das Obdach gegenüber der Straße, der Außenwelt; die Vergangenheit (eine andere Art Obdach) gegenüber der Gegenwart (der Unsicherheit). Aber zwangsläufig erfolgt der Identifikation mit den jeweils ersten Gliedern dieser Gegenüberstellung. Das Bedürfnis des Helden, sich in seiner Welt zu verschanzen (in seinem Zimmer, seinen Träumen, bei Frauen, die seinen Launen entsprechen) zeigt sie Unfähigkeit, es mit der viel weiteren Realität aufzunehmen: der Revolution, dem Unterentwickeltsein. Es zeigt auch die Unfähigkeit, Individuum zu sein (er wünscht sich, als Europäer geboren zu sein; ist aber keiner und kann den Wert der anderen, die es ebenso wenig sind begreifen), die Unfähigkeit, zu lieben (er kann der bezaubernden Europäerin nur wie einem Traum begegnen). Er ist nicht auf der Höhe der Ereignisse, als sein Land Geschichte macht. Er ist nicht in der Lage, die damit verbundenen Risiken und Schwierigkeiten auf sich zu nehmen. Für ihn kommt alles zu früh oder zu spät. Er kann keine Entscheidungen treffen. Wir identifizieren uns nicht mit den Absichten und Gefühlen dieses Helden. Trotzdem können wir so neue Aspekte der Realität, die uns umgibt, entdecken. Manchmal durch ihn, manchmal im Gegensatz zu ihm. Seine Zuschauerhaltung, in der nur ein Minimum an Durchschauen der Zusammenhänge vorhanden ist, aktiviert unseren kritischen Verstand. Seine Beurteilung, seine Einschätzungen, manchmal hypertroph und immer subjektiv bleibend, werden Objekte unserer kritischen Haltung. Die Konfrontation seiner Welt mit unserer wirklichen, 'dokumentarischen' kann zu vielen Erkenntnissen führen. Es gelingt so vielleicht, das gute Gewissen einer ganzen Reihe von Leuten ins Wanken zu bringen. (...)

Die 'Sprache', die ich in diesem Film verwendet habe, geht von der wörtlichen Übernahme einzelner Romanpassagen bis zur freieren Interpretation. Es ist eine offene Sprache, offensichtlich unartikuliert, sie erinnert eher an 'Collagen' in der bildenden Kunst als an eine literarische Erzählung. Es liegt in der Natur des Films (unmittelbarer Charakter der Kamera, der Aufnahme), dass er die Wirklichkeit in fertiger, konkreter Form einfängt (keine Farben und Töne, sondern Menschen, Landschaften, Situationen), und diese Bilder benutzt er als Rohmaterial, um daraus das Werk zu machen. Diese Wirklichkeit zeigt sich auf verschiednenen Ebenen: von der Naturlandschaft, den Gegenständen, dem Gesang eines Vogels bis zu den kunstvollsten menschlichen Schöpfungen, z.B. seinen Interpretationen und seinem Bild dieser Realität. (...)

Uns interessiert es nicht, die Realität zu reflektieren, sondern sie zu bereichern, die Sensibilität zu erregen und zu entwickeln, ein Problem aufzudecken. Wir wollen die dialektischen Widersprüche nicht mit Formeln und idealen Dartsellungen mildern. Im Gegenteil wir wollen ihnen eine agressive Vitalität verleihen, die Voraussetzung von Entwicklung schaffen mit all den zerstörerischen Konsequenzen für Ruhe. Es gibt eine gewisse Art von Leuten, mit denen wir leben müssen und mit denen wir zu unserem ständigen Verdruß beim Aufbau der neuen Gesellschaft rechnen müssen. Mit jenen, die die alleinigen Bewahrer des revolutionären Vermächtnisses zu sein glauben, die wissen, was sozialistische Moral ist, die Mittelmäßigkeit und Provinzialismus institutionalisiert haben. Die Bürokraten mit oder ohne Büro. Die die Seele des Volkes kennen und von ihr wie von einem vielversprechenden Kinde reden, das man aber gut kennen muß usw.; wenn man sie hört, glaubt man sie schützend über die Schultern des Kindes streichen zu sehen. Es sind dieselben, die uns sagen, wie wir zum Volk sprechen müssen, wie wir uns anziehen müssen, wie wir kämpfen müssen. Sie wissen, was man zeigen kann und was nicht, weil das Volk noch nicht reif ist, die ganze Wahrheit zu erfahren. Sie schämen sich für unsere Zurückgebliebenheit und bringen uns einen nationalen Minderwertigkeitskomplex bei. Auch das ist unter anderem die Aufgabe des Films: diese Leute zu beunruhigen, zu provozieren, zu irritieren. Auch an sie richtet er sich."

Aus einem Interview mit der Zeitschrift Positif Nr. 98 Paris 1968, S. 41 ff.

(zit.n.: Schumann, Peter B.: Handbuch des Lateinamerikanischen Kinos, Frankfurt am Main 1982, S. 204ff



Letzte Bearbeitung VP 29.1.2016

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