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LOS SOBREVIVIENTES

DIE ÜBERLEBENDEN

Tomás Gutiérrez Alea, Cuba, 1978

130 Min., Spielfilm, ICAIC, Farbe, 35 mm



Über Leben und Überleben - Fünf Antworten

"1.

Ich begann meine professionelle Filmarbeit mit dem Abdrehen von Witzen für CINEREVISTA (ich machte auch kleine Werbespots und sehr einfache Reportagen oder Dokumentarstreifen). Der Arbeitsrhythmus (...) zwang uns zu einer beständigen Übung im Erfinden von Filmhumor. Selbst innerhalb des engen Rahmens, in dem wir unsere Arbeit abwickeln konnten, stellte jene Etappe ein gewiss gute Schule dar, weil sie uns dazu zwang sich in gewisser Unbefangenheit mit unserer ersten Komödie DIE ZWÖLF STÜHLE) auseinanderzusetzen. Dabei hatten wir damals nur geringe Mittel zur Verfügung und wenig Erfahrung. Wenn in DIE ÜBERLEBENDEN der Humor mehr oder weniger 'schwarz' ist, beruht das meiner Meinung nach auf einer persönlichen Meinung, obwohl unsere spanischen Vorfahren augenscheinlich sehr viel damit zu tun haben. Es gibt eine ganze kulturelle Tendenz in diese Richtung, die offen seit dem spanischen Schelmenroman zutage tritt und die wir in gewisser Weise erbten. Der Humor ist ein Ausdrucksmittel, das sehr widersprüchliche Wirkung haben kann. Er kann dazu dienen, lächerlich zu machen, aber auch zu begeistern. Er kann im Dienste der Verweigerung, aber auch der Bestätigung stehen. Er kann ein Fluchtvehikel sein, aber auch zum Anreiz für eine kritische Haltung dienen, um im Sinne Brechts 'Distanz zu gewinnen'. Außer der Erleichterung der Kommunikation stellt er einen Brechungsfaktor dar, demgegenüber alle Schemata ins Wanken geraten, in denen wir uns manchmal ohne Wissen um die Gründe bewegen. Der Humor kann etwas sehr Ernstes werden, wenn er der lächerlichen Feierlichkeit einiger Richter gegenübertritt ... Wie du siehst, gibt es genügend Gründe, ihn interessant erscheinen zu lassen. Im speziellen Fall von DIE ÜBERLEBENDEN schien es uns, dass der ätzende Humor, mit dem wir die Verwicklung dieser Familie darstellen können, ein gutes Mittel war, die Absurdität der Werte dieser Familie in ihrem Kampf ums Überleben inmitten der Revolution aufzuzeigen.

2.

Diese Thematik schlug ich schon seit DIE ZWÖLF STÜHLE an. Uns interessiert natürlich nicht einfach die Dekadenz einer Klasse. Am wichtigsten ist in den ERINNERUNGEN AN DIE UNTERENTWICKLUNG und in DIE ÜBERLEBENDEN das Überleben der bürgerlichen Werte inmitten der Revolution. Meiner Meinung nach ist das ein wirklich bedeutsames Thema, weil man sich nicht immer dieses Phänomens bewusst ist. Beide Filme möchten auf verschiedene Wegen die Aufmerksamkeit auf dieses Problem lenken.

3.

Die Religion für sich genommen, ist nicht das große Problem, denn sie ist kein Grund, sondern eine Folge der historischen Unzulänglichkeiten des materiellen Produktionsprozesses. Sie wird an dem Tag eines natürlichen Todes sterben, an dem diese Entwicklung sich voll in die Herrschaft des Menschen über sich selbst, über seine sozialen Beziehungen und über die Natur einbringt. Das einzige, was sich wirksam dem religiösen Geist entgegenstellt, ist die Entwicklung des wissenschaftlichen Intellektes. Die Religion verliert selbstverständlich schon dort an Gewicht, wo sich eine gerechtere Gesellschaft etabliert. Solange jedoch nicht vollständig die Entstehungsursachen verschwinden, zeigt sich das religiöse Gefühl starrköpfig und trügerisch. Es ist nicht verwunderlich, dass es uns dort in weltlicher Verkleidung entgegentritt, wo wir es am wenigsten vermuten. Das ist schon besorgniserregender, weil es schwieriger zu enthüllen ist. Was mich in Wirklichkeit immer interessiert hat, ist das Problem, wie der religiöse Geist in jeder nur möglichen Form instrumentalisiert wird, um eine Klasse zu unterwerfen und auf jeden Fall die Entwicklung der Gesellschaft zu bremsen. Wenn wir verschiedentlich auf dieses Problem angespielt haben, gingen wir von der katholischen Religion aus, weil sie in unserer Nähe ist und weil man in ihren Beziehungen zur Bourgeoisie deutlicher diese Mechanismen aufzeigen kann, die unweigerlich zur Heuchelei und zur Lüge führen. In dem Film DAS LETZTE ABENDMAHL (1976) ist dieser Gedanke direkt aufgenommen. Auch in dem Film DIE ÜBERLEBENDEN spiele ich darauf an, aber dort ist es nur eine Angabe mehr, die uns für das Panorama der bürgerlichen Welt hilfreich erscheint.

4.

Die Notwendigkeit einer Gestalt wie Julio In DIE ÜBERLEBENDEN mit Merkmalen, die er mit Sergio aus ERINNERUNGEN AN DIE UNTERENTWICKLUNG gemeinsam hat, beruht auf der Tatsache, dass es sich um eine typische Figur in einem Augenblick der Dekadenz handelt. Julio birgt die Werte seiner Klasse in sich, aber gleichzeitig weist er diese Werte von sich. Er ist eine klarsichtige Gestalt, weil er sich der Tatsache bewusst ist, dass seine Anwesenheit ihn gegen den Strich der Gesellschaft gehen lässt. Aber es ist wichtig, der Welt und seine Interessen zu entsagen und in Übereinstimmung mit seiner Vernunft zu handeln. Dieser Prozess ist voller Widersprüche und Dramatik. Julios Entwurzelung lässt ihn zum Alkohol Zuflucht nehmen, so wie Sergio Trost bei den Frauen fand. Aus der Handlungsperspektive können wir die Funktion dieser Gestalt folgendermaßen sehen: Er ist gleichzeitig ein Zeuge und Teilnehmer seiner Umwelt. In diesem Sinne wirft er Licht auf die Ereignisse, weil er sie uns aus einem anderen Blickwinkel sehen lässt. Er ist meiner Meinung nach eine Schüsselfigur für das Verständnis des Films.

5.

Ich glaube, dass das Thema und das Ziel, dass wir uns gesetzt haben, die Koexistenz des Tragischen oder des Dramatischen mit dem Komischen voraussetzt. Der daraus resultierende Stil sollte es uns erlauben, dass wir uns auf organische Weise zwischen diesen beiden Polen bewegen. Meiner Meinung nach ist der Tonwechsel zwischen dem Filmanfang und -ende als progressiv einzuschätzen. Er wird durch die Notwendigkeit der dramatischen Entwicklung bestimmt, die mit den Spielregeln von Anfang an in Übereinstimmung steht. Ich glaube, dass der Film gegen Ende das Tragische und das Komische integriert. Dieser Zusammenprall ist für mich besonders interessant, weil er das Absurde auf dieser Welt inmitten der Revolution enthüllt."

Tomás Gutiérrez Alea:
Antworten auf einen Fragebogen von Daniel Díaz Torres in: Cine Cubano Nr. 89-90, 1979
(zit. n.: Con-Film, Cubanische Filmwoche, Bremen 1989, S. 18)


Letzte Bearbeitung VP 29.1.2016

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