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Tomás Gutiérrez Alea | Biographie | Filmographie | Interviews

Interview mit Tomás Gutiérrez Alea
von Gerardo Chijona

Gerardo Chijona:

Welche Forschungsergebnisse liegen diesem Film zugrunde?

Tomás Gutiérrez Alea: Die Handlung basiert auf einem kurzen Abschnitt aus Moreno Fraginals' Buch 'Die Zuckerzentralen', in dem es heißt: »Der Herzog von Estrada (ein Kaplan, der ein kleines 1797 verlegtes Buch mit dem Titel 'Den Fähigkeiten der Neger angepasste Erläuterungen der christlichen Doktrin' geschrieben hatte) ist sich dessen bewusst, dass sich die religiöse Lehre in einer Krise befindet. Manchmal durch die Schuld der Neger, die nicht gut begreifen, was mit ihnen geschieht. So fasste zum Beispiel der Herr Graf von Casa Bayona in einem Akt tiefsten christlichen Glaubens den Entschluss, sich vor seinen Sklaven zu demütigen, und er wusch, Christus nacheifernd, an einem Gründonnerstag zwölf Negersklaven die Füße, setzte sie an eine Tafel und trug ihnen die Speisen auf. Aber die Sklaven, deren theologische Kenntnisse sehr gering waren, verhielten sich keineswegs wie Apostel, vielmehr lehnten sie sich gegen den Herrn auf und nutzten dabei das Ansehen, das sie bei anderen Sklaven gewonnen hatten. Zuletzt brannten sie die Zuckerzentrale nieder. Der sehr christliche Akt wurde von den Sklavenjägern beendet, welche die aufständischen Neger einfingen und die Köpfe der zwölf Sklaven, vor denen sich der Herr Graf von Casa Bayona erniedrigt hatte, auf Lanzen spießten.«

Das war unser Ausgangsmaterial. Wir hatten keinen Zugang zu dem Originaldokument, das diese Begebenheit schildert - zu den Darlegungen des Don Miguel de Moya, unterzeichnet am 19. Januar 1790 von fast allen Herren der Zuckerzentralen im Gerichtskreis - , da sich weder dieses Dokument noch eine Kopie desselben in Kuba befinden.

Dennoch schienen uns diese Sätze aus Fraginals' Buch aussagekräftig genug, um die Heuchelei aufzudecken, die sich hinter jenem 'christlichen Geist' verbirgt, sofern er den Klasseninteressen zuwiderläuft. Nebenbei gesagt, war dieser 'christliche Geist' zugleich ein wichtiger Faktor bei der Herausbildung unserer Nationalität und hat bestimmte Züge unserer Kultur geprägt.

Glücklicherweise gewährte uns das faktenreiche Buch Moreno Fraginals' umfassenden Einblick in jene Epoche, da unsere einheimische Bourgeoisie, die sich vor allem auf die Zuckerproduktion stützte, sich als Klasse zu formieren begann. Damit war uns nicht nur ein Ausgangspunkt gegeben, wir hatten so auch ausreichend Material, um eine erste Idee für die Handlung des Films zu entwickeln.

Zunächst machten wir uns dann daran, diese Epoche gründlich zu erforschen, uns mit weiterreichenden Informationen zu versorgen und an Hand von Dokumenten über Details zu unterrichten, um ein konkretes Bild der Realität zu erhalten, die wir im Film abbilden wollten. Dabei gewährte uns Maria Eugenia Haya große Hilfe, die uns bei der Suche nach Dokumenten und deren Katalogisierung unterstützte und am Drehbuch mitarbeitete. Das war nicht nur für die Entwicklung des Drehbuches wichtig, sondern auch für alle folgenden Arbeitsphasen - es war wichtig für die Wahl der Kostüme und Requisiten, für die Szenographie, für die Arbeit mit den Schauspielern. Darüber hinaus lieferte uns auch Moreno Fraginals noch viele zusätzliche Angaben und stand uns ständig als Berater zur Verfügung. Es war sehr exakte Teamarbeit, und ich glaube, dies spiegelt sich auch im Ergebnis, im Film, wider.

Die größten Schwierigkeiten bereitet die Erforschung all dessen, was das Leben der Sklaven betraf, denn natürlich gibt darüber kaum Zeugnisse aus erster Hand. Dennoch haben wir auch auf diesem Gebiet gründliche Arbeit geleistet, so dass unsere Phantasie genügend Nahrung erhielt, ohne jedoch ins Uferlose abzuschweifen ... In dieser Hinsicht schulden wir vor allem Martínez Furé großen Dank, dessen Forschungsarbeit einen wertvollen Beitrag zur besseren Kenntnis unserer Kultur, insbesondere was dessen afrikanische Komponente betrifft, darstellt.

Dank dieser vorzubereitenden Forschungen gelang es uns, eine solide Grundlage für die Filmarbeit zu schaffen, sie waren die Voraussetzung dafür, dass das Drehbuch dann gewissermaßen in einem Atem geschrieben werden konnte - eine Aufgabe, die im wesentlichen von Tomás González bewältigt wurde.

Gerardo Chijona: DAS LETZTE ABENDMAHL repräsentiert eine neue Tendenz im kubanischen Spielfilmschaffen, die sich dem Thema der Sklaverei widmet, es in unterschiedlichen dramatischen Formen gestaltet. Wie ordnen Sie Ihren Film in diese thematische Linie ein? Gibt es Berührungspunkte mit anderen Filmen dieser Thematik? Worin unterscheidet sich dieser Film von anderen Werken?

Tomás Gutiérrez Alea: Der erste bedeutende Film, der diese Thematik gestaltete, war Sergio Girals EL OTRO FRANCISCO (DER ANDERE FRANCISCO, 1975), der durch eine analytische, distanzierte Haltung gekennzeichnet ist. Mit ihm wurde das Fundament gelegt für ein besseres Begreifen der Probleme der Sklaverei aus aktueller Sicht; das heißt, die Dinge werden hier von klassenbewusstem, historisch-wissenschaftlichem Standpunkt analysiert und gewertet. Dieser erste Schritt war notwendig, vor allem wenn man berücksichtigt, dass dies ein Aspekt unserer Vergangenheit ist, der in gewissem Maße unsere Gegenwart bedingt und über den in manchen Schichten unserer Bevölkerung noch immer Verwirrung herrscht.

In RANCHEADOR (MENSCHENJÄGER, 1978) gestaltet Giral das Thema von dramaturgischem Gesichtspunkt gesehen, freier, weil er sich nun bereits auf den vorausgegangene Film stützen konnte. Er beobachtet die Dinge aus einem anderen Blickwinkel und legte den Akzent auf die Persönlichkeit des Menschenjägers, enthüllte dessen Wesen - das eines Söldners, eines Menschen, der sich in den Dienst der herrschenden Klasse stellt, um für sie die »schmutzige« Arbeit, die der direkten Repression, zu verrichten., der sich also verkauft ... Die Resonanz, die die jüngsten Ereignisse in Angola und in den afrikanischen Ländern bei der Bevölkerung Kubas fanden, hat noch dazu beigetragen, die Aktualität dieses Themas zu unterstreichen.

DAS LETZTE ABENDMAHL lässt trotz vieler Berührungspunkte mit diesen beiden Filmen eine mehr reflektierende Haltung und eine größere Dichte in der Behandlung des Themas erkennen. Zwar zeichnet der Film ein Bild der Sklaverei in ihrer krassesten Form - der durch die Revolution in Haiti und den darauf folgenden Rückgang der Zuckerproduktion jenes Landes hervorgerufene Boom sowie die wachsende Nachfrage auf dem Weltmarkt führten in Kuba zu einer alle bisherigen Grenzen übersteigenden Ausbeutung der Sklaven - , aber er will vor allem, wie schon gesagt, die Heuchelei anprangern, die sich mit dem »christlichen Geist« verbindet, den die Bourgeoisie verkörpert, er will anschaulich machen, dass dies Klasse sich letzten Endes immer von ihren materiellen Interessen leiten lässt.

Darum glaube ich, dass diese drei Filme einander vorzüglich ergänzen, dass alle drei wertvoll, ich möchte sagen, notwendig sind. Und nicht nur das: Ich denke, es ist dies eine thematische Linie unseres Spiefilmschaffens, die sich in den genannten Arbeiten keineswegs erschöpft; vielmehr gibt es zu diesem Thema noch viel zu sagen. Zweifellos wäre es angesichts der begrenzten Kapazität unserer Filmproduktion ein Fehler, in einseitige Haltungen zu verfallen, nur eine thematische Linie zu verfolgen, denn damit engten wir unsere Möglichkeiten, eine so komplizierte Realität wie die in der wir leben, umfassend darzustellen, ein. Es ist notwendig, unsere Produktion auch im Hinblick auf die Thematik so abwechslungsreich wie möglich zu gestalten.

Gerardo Chijona: War es Ihr Ziel, eine Verbindung zwischen der im Film gestalteten Geschichte und der gemeinsamen Vergangenheit der lateinamerikanischen Völker herzustellen?

Tomás Gutiérrez Alea: Ein Ergebnis der jüngsten Vergangenheit, das uns alle erschüttert hat, da ja alles was in unserem Amerika geschieht, in Kuba besonders stark Widerhall findet - ich meine den faschistischen Putsch in Chile und dessen Unterstützung durch die 'Christdemokraten' -, machte auch denjenigen, die noch immer nicht davon überzeugt waren, deutlich, dass ein Klasse nicht über ihre objektiven Interessen hinauszugehen vermag, dass sie sich, ungeachtet aller zur Schau gestellten 'humanistischen Ideale' in letzter Instanz doch stets nach diesen Interessen richtet.

Der emotionelle Schock, den die Ereignisse in Chile uns versetzten, ließ uns erkennen, dass es dies und nichts anderes ist, was die Haltung des Grafen in dem im Film geschilderten Vorgang bestimmt. Wir meinen daher, dass das Thema auf die eine oder andere Weise mit einem wichtigen Aspekt der Wirklichkeit unserer Tage in Zusammenhang steht., nicht nur - wenn es hier auch besonders deutlich wird - mit der Problematik der lateinamerikanischen Länder und solcher Länder wie Spanien, sondern auch mit den Erscheinungen, die überall dort zu Tage treten, wo die Entwicklung von dieser Deformation des Christentums gekennzeichnet ist, wo es der Bourgeoisie als ein Instrument der Machtausübung dient. In unserem Lande ist die Lage natürlich eine andere, aber man darf nicht vergessen, dass dieses kulturelle Phänomen auch uns im Verlauf unserer Geschichte geprägt hat und dass es verzweifelt darum kämpft, sich zu behaupten. Jetzt inmitten des Kampfes, den wir auf ideologischen Gebiet führen ist es wichtig, den Problemen an die 'Wurzel' zu gehen, und ich denke, in diesem Sinne erfüllt der Film auch eine enthüllende Funktion.

Gerardo Chijona: Zweifellos bildet die Szene des Abendmahl den Kern der dramatischen Struktur des Films, und gewiss war die filmische Gestaltung dieser Sequenz alles andere als einfach. Wie wurde daran gearbeitet?

Tomás Gutiérrez Alea : Die Sequenz des Abendmahls ist nicht nur der strukturelle Kern, sie kann beinahe als eine autonome Einheit betrachtet werden, als ein Film, der vielleicht auch für sich funktionieren könnte. Es war auch die schwierigste Sequenz, sowohl, was die Konzeption ihrer dramatischen Struktur angeht als auch deren bildhafte Ausführung.

Es ist eine Szene, in der die Sklaven als Individuen dargestellt werden und nicht als anonyme Masse, deren Präsenz nur den Hintergrund für eine Haupthandlung abgibt. Hier zeigt sich die unverwechselbare Persönlichkeit eines jeden dieser Sklaven, die für einen Augenblick die Rollen der Apostel spielen, hier kommt das Drama eines jeden von ihnen zum Ausdruck. Das erfordert eine sehr gründliche Ausarbeitung, die noch dadurch erschwert wurde, dass wir uns, wie schon gesagt, kaum auf Dokumente über das Leben der Sklaven stützen konnten, denn deren Alltag ist im Allgemeinen nur von außen betrachtet worden. Hier fiel unserer Phantasie die entscheidende Rolle zu.

Zugleich ist es aber eine Sequenz von außergewöhnlicher Länge - sie dauert fast eine Stunde -, die zudem nur an einem Schauplatz spielt, im Speiseraum, in dem das Abendmahl eingenommen wird. Die Gefahr, in Erstarrung zu verfallen, lag also nahe. Dem zu entgehen war eine weitere Schwierigkeit, die wir überwinden mußten. Wir sahen darin eine echte Herausforderung: Es galt eine dynamische dramatische Struktur zu finden, die das Interesse der Zuschauer nicht erlahmen ließ, die engen grenzen, die uns hinsichtlich der Anwendung filmischer Ausdrucksmittel gesetzt waren, durften nicht spürbar werden. Was die Arbeit mit den Schauspielern betraf, so war dies zweifellos die Szenen, an der am meisten gearbeitet worden ist. Wir probten wie bei einer Bühneninszenierung, und gerade das ermöglichte es den Schauspielern, selbst eine Reihe von Lösungen einzubringen, so dass sie sich dann während der Dreharbeiten freier fühlten. Besonders fruchtbar war die Mitarbeit eines Schauspielers wie Nelson Villagra , der diese Sequenz im Wesentlichen 'trägt' und dessen Leistung ich als außergewöhnlich werte. Aber mir scheint, dass auch die anderen Darsteller - Berufsschauspieler wie Laiendarsteller - das Niveau erreichten, das notwendig war, um zu einer in sich geschlossenen künstlerischen Gestaltung zu gelangen. Bei der Inszenierung war uns José Antonio Rodríguez eine wertvolle Hilfe.

Gerardo Chijona: Welchen Prinzipien folgten Kameraführung und Szenographie bei diesem Film über einen historischen Stoff?

Tomás Gutiérrez Alea: Am liebsten wäre es mir, wenn diese Frage der Chefkameramann Mario García Joya beantworten würde, denn sie betrifft Aufgaben, die vor allem auf seinen Schultern lasteten. Er arbeitete in stetem, engem Kontakt mit dem Szenenbildner Arditti, dem Kostümbildner Jesus Ruiz und natürlich mit mir, und er arbeitete von der ersten Probeaufnahme bis zur letzten Einstellung mit größter Intensität und Genauigkeit. Er machte zuerst eine Farbstudie, die leider nicht aufgehoben wurde, obwohl sie für spätere Filme als Anschauungsmaterial hätte dienen können. dadurch wurden Zufälligkeiten weitgehend ausgeschaltet, der Spielraum für Improvisationen wurde auf ein Minimum reduziert. Jeder Teil des Films sollte, vergleichbar den ersten Teilen einer Sonate, nicht nur ein charakteristisches Tempo, sondern eine besondere Farbe haben, die wie ein Grundton innerhalb eines bestimmten Beziehungssystem funktioniert und sich konsequent nach den Erfordernissen des Ausdrucks richtet, die das Thema stellt. Diese Konzeption wurde zum Ausgangspunkt für die Kameraarbeit.

Wichtig ist, dass es sich hier nicht um in willkürliches Kriterium handelte, dass die Konzeption nicht auf eine vordergründig 'dekorative' Gestaltung zielte, gefordert war Kohärenz, Geschlossenheit des Ausdrucks, das Bild sollte nicht etwa nur 'Beiwerk' sein. Unser Ziel war es, eine konsequente und an phantasievollen Lösungen reiche Arbeit zu vollbringen. Die zuvor erarbeitete Konzeption funktionierte dabei eher wie ein 'Schutznetz', das uns auch bei den kühnsten Flügen der Phantasie noch ein Gefühl der Sicherheit gab.

Das Streben nach größtmöglicher Genauigkeit bestimmte auch die Szenographie, und darüber hinaus die Wahl der Requisiten, die Verwendung von 'Spezialeffekten', das Bemühen um »Atmosphäre«.

Gerardo Chijona : Welchen Platz nimmt dieser Film in Ihrem bisherigen Schaffen ein?

Tomás Gutiérrez Alea: DAS LETZTE ABENDMAHL erzählt einen historischen Stoff. Der Film nimmt die Erfahrungen, die ich mit UNA PELEA CUBANA CONTRA LOS DEMONIOS (EINE KUBANISCHE SCHLACHT GEGEN DIE DÄMONEN, 1971) gewonnen habe, auf, aber vor allem will er einige Unzulänglichkeiten der obengenannten Arbeit - primär Mängel bei der Behandlung des Themas - überwinden. Letzten Endes ist es die Konfrontation mit dem Publikum, die in der Praxis - und ganz unabhängig von den Absichten der Filmemacher - erweist, welche Wirkung und welche Bedeutung ein Werk hat. Dies ist ein Faktor, der auch die Entwicklung der filmischen Sprache bedingt. Es genügt auch nicht, den Versuch zu machen, irgendeine wesentliche Seite der Realität zu enthüllen, es ist notwendig, diese Dinge so zu sagen, dass sie beim Zuschauer Resonanz finden, so dass dieser entsprechend reagiert. Wenn wir wollen, dass der Film eine produktive gesellschaftliche Funktion erfüllt - und in der Gesellschaft, die wir errichten, ist diese Funktion um so produktiver, je besser es gelingt, den Zuschauer zu aktiven Teilnahme am gesellschaftlichen Leben anzuregen -, so muss die Sprache, deren sich die Filmemacher bedienen, fähig sein, eine wirksame Kommunikation herzustellen. Das ist eine unerlässliche Voraussetzung. Natürlich darf uns das nicht zu Simplifikationen verführen, wir dürfen nicht in Banalität verfallen, nur, weil auf dieser Ebene das Risiko der Kommunikationslosigkeit sehr klein ist. Die Zuschauer sind verschieden, und es gibt durchaus unterschiedliche Ebenen und Wirksamkeiten eines Kunstwerkes. Kunst kann ihre gesellschaftliche Funktion auf vielfältigste Weise erfüllen. Im Verlauf dieses Dialogs zwischen Werk und Zuschauer entwickeln beide sich weiter, und es ist vorauszusehen, dass es zu einer produktiven Kommunikation auch auf einem Schwierigkeitsniveau kommen kann, das ein tieferes Verständnis für die Realität voraussetzt. Wir müssen dies als eine historische Entwicklungstendenz begreifen, die nicht nur ein paar Jahre und einige Werke umfasst. Jedes Kunstwerk, das an diesem Prozess teilhaben will, muss versuchen, einen Schritt voran zu gehen, ungeachtet aller Risiken, die dies mit sich bringt. Und noch die Fehler, die man auf solch einem Weg begehen kann, die Unzulänglichkeiten, die unseren Werken anhaften, können von Nutzen sein, in dem Maße nämlich, als sie uns erlauben, 'die Schussrichtung zu korrigieren'. Darum nannte ich EINE KUBANISCHE SCHLACHT GEGEN DIE DÄMONEN einen direkten Vorläufer des LETZTEN ABENDMAHLS, trotz aller substanziellen Unterschiede zwischen beiden Filmen - Unterschiede vor allem in der Gestaltung des Themas und der Sprache, die, wie ich glaube, im LETZTEN ABENDMAHL glasklar und direkt und darum viel leichter zugänglich ist.

Die Tatsache, dass wir uns hier wiederum einem historischen Thema zugewandt haben, bedeutet nichts anderes, als dass wir meinen auch dies sei eine Linie im kubanischen Filmschaffen, dessen Weiterentwicklung wichtig ist. Unsere historischen Filme sind vor allem deshalb notwendig, weil die Vergangenheit von den bürgerlichen Geschichtsschreibern systematisch verzerrt dargestellt wurden. Natürlich haben wir auch einige Historiker, die ihr Leben der Erforschung der Geschichte aus anderem Blickwinkel gewidmet haben - einige analysierten die Vergangenheit auch aus eindeutig marxistischer Sicht und ihre Arbeiten waren gewissermaßen Akte der Rebellion inmitten einer reaktionären, rassistischen Gesellschaft, die nur die Interessen des Kapitalismus anerkannte. Sie leisteten einen wertvollen Beitrag zu weiteren Erhellung unserer Vergangenheit und helfen, unsere besten Kampftraditionen zu erkennen und weiterzuführen.

Wenn der Film sich auf diese Arbeiten stützt, wenn er von dem ausgeht, was seit dem Sieg der Revolution auf diesem Gebiet vollbracht wurde, kann er viel für die Entwicklung des Geschichtsbewusstsein tun, indem besondere Augenblicke unserer Vergangenheit 'wieder belebt', indem er uns kraft seines dramatischen, spektakulären Wesens ein lebendiges Bild jener Vorgänge entwirft, vermag er deren Bedeutung anschaulich zu machen, hilft er uns, sie besser zu verstehen. Natürlich beschränken sich die Forderungen, die wir, ausgehend von unserer ideologischen Position, an den historischen Film stellen, nicht nur auf die 'Rekonstruktion' besondere Momente der Vergangenheit, die Bedeutung dieser Filme ergibt sich für uns vielmehr aus der Wirkung, die sie, gestützt auf eine exakte wissenschaftliche Interpretation der historischen Fakten, für die Gegenwart haben können, aus der Einflußnahme auf das Verständnis und die Behauptung der revolutionären Entwicklungstendenz in der Gegenwart.

Ich habe aber auch Filme gemacht, welche die Gegenwart unmittelbar widerspiegeln: LAS DOCE SILLAS (DIE ZWÖLF STÜHLE, 1962) , LA MUERTE DE UN BURÓCRATA (DER TOD EINES BÜROKRATEN, 1966) und MEMORIAS DEL SUBDESAROLLO (ERINNERUNGEN AN DIE UNTERENTWICKLUNG, 1968), und bin mir dessen bewusst, dass die Linie des Gegenwartsfilms die wichtigste ist, dass sie besonders geeignet ist, das Bedürfnis nach Akkumulation all derer Erfahrungen, die wir gegenwärtig durchleben, zu befriedigen und das Verhältnis zum Zuschauer produktiver werden zu lassen. Diese Filme sollten meiner Meinung nach nicht nur irgendein wesentlichen Aspekt der gegenwärtigen Realität zeigen und helfen, ihn zu interpretieren und zu begreifen, sondern vor allem können und müssen sie versuchen, ihre gesellschaftliche Funktion weiter zu fassen: Sie müssen den Zuschauer ausrüsten mit kritischem Bewusstsein in Bezug auf die Realität und in bezug auf sich selbst, damit er dann, wenn er das Kino verlassen hat. und wieder in seiner alltäglichen Umwelt steht, nicht nur um gewisse Informationen bereichert ist, die ihm helfen die Prozesse, an denen er selbst teil hat, besser zu begreifen, sondern auch bewegt ist, stimuliert, sich aktiv in diese Prozesse einzuschalten. Wir brauchen nicht nur Werke, die Welt zu interpretieren, wir brauchen auch Filme, die dazu beitragen sie zu verändern.

Wenn ich hier konstatiere, dass ich die Filme für die wichtigsten erachte, die unmittelbar Gegenwartsthemen gestalten, so schließe ich jedoch die Notwendigkeit nicht aus, auch jene Linie, die der historischen Thematik gewidmet ist, weiterzuentwickeln, denn wie ich schon bei anderer Gelegenheit sagte: »Diese beiden Linien - Vergangenheit und Gegenwart - sind nur scheinbar Parallelen; sie schneiden sich in der gesunden Ungeduld, die Zukunft näher zubringen. Jeder Meter Film, den wir drehen, ist letztlich von dieser historischen Aufgabe geprägt.«

Gerardo Chijona: An welchen Projekten arbeiten Sie zur Zeit? Welches sind ihre Vorhaben für die Zukunft?

Tomás Gutiérrez Alea: Ich habe gerade einen Film beendet LOS SOBREVIVIENTES (DIE ÜBERLEBENDEN) , eine Komödie, die im ersten Jahr-zehnt nach dem Sieg der Revolution spielt: Eine großbürgerliche Familie mit aristokratischer Vergangenheit - ein Urahn war mit Kolumbus in unser Land gekommen, andere gehörten zu den Konquistadoren, alle hatten sie auf die eine oder andere Art an der Geschichte Kubas mitgewirkt- beschließt, sich zusammen mit der Dienerschaft in einem Herrensitz zu verbarrikadieren, bis diese »Sintflut« der Revolution verebbt sein wird. Anfangs glaubten sie, dass es sich nur um wenige Monate handeln könne, aber in dem Maße, in dem die Revolution sich konsolidiert, beginnen sie zu begreifen, dass ihre selbstgewählte Isolation länger währen wird. Sie decken sich darum mit all den Dingen ein, die sie brauchen, um zwei, drei Jahre lang ohne Entbehrungen leben zu können. Vor allem beschließen sie, ihre bisherige feudale Lebensform, die Etikette, das Zeremoniell zu wahren, denn darin erkennen sie sich, daraus gewinnen sie die Kraft, den revolutionären Veränderungen Widerstand zu leisten. Allmählich, mit dem Schwinden ihrer Vorräte - der materiellen Grundlage ihres Überlebens - wandeln sich die Beziehungen zwischen den Familienmitgliedern, zwischen diesen und der Dienerschaft. Sie entwickeln sich gleichsam rückläufig: Entsprechen die Beziehungen zwischen Herrschaft und Dienern anfänglich der Klassenkonstellation des Kapitalismus, so kommt bald der Zeitpunkt, da sie der des Feudalismus gleichen; der Boden - der Park um die Villa - muß an die Diener verteilt werden, um die Versorgung der Herrschaft zu sichern. Als die 'Leibeigenen' die Situation nicht mehr ertragen und fortgehen wollen, zwingt man sie im Hause zu bleiben, zu diesem Zweck muß man die Gruppe der Diener teilen - die einen werden die Bewacher der anderen, die in die Lage von Sklaven geraten. So sinkt die Produktivkraft noch weiter ab. Die Sklaven erheben sich, es kommt zu einer bewaffneten Auseinandersetzung, die Überlebenden fliehen, zurück bleiben nur einige Familienmitglieder, die, um ihr Leben fristen zu können, eine Ordnung des primitiven Kommunismus einführen müssen. Da auch diese nicht funktioniert, weil die einen zu alt sind, um noch arbeiten zu können, die anderen nicht arbeiten wollten, gelangen sie schließlich in eine Situation, die dem Zustand der Wildheit gleicht. Aber das Wichtigste: Ihre Repression vollzog sich, ohne dass die ihre Lebensform, die Etikette preisgegeben hätten. So haben diese Formen am Schluss nichts mehr mit der realen Situation der Überlebenden zu tun, sind nur noch eine leere Hülle, die sich aber so verfestigt hat, dass sie bestehen bleibt - trotz alledem. Doch auf lange Sicht ist auch sie dazu verurteilt, zu verschwinden oder - sich zu verändern.

Nach diesem Film möchte nun die mit ERINNERUNGEN AN DIE UNTERENTWICKLUNG begonnen Linie wiederaufnehmen und einen Film über einen Soziologen machen, einem revolutionären Intellektuellen kleinbürgerlicher Herkunft, der mit einer Gruppe anderen sozialen Herkommens konfrontiert wird und dadurch in Konflikte gerät. Das ist ein altes Projekt, das jetzt gern verwirklichen möchte, nachdem ich dem mit den ÜBERLEBENDEN fertig bin, wenn ich überlebe...

Interview: Gerardo Chijona in: Cine Cubano Nr. 93, 1979, deutsch in Film und Fernsehen, Nr. 7 1979, S. 24-29



Letzte Bearbeitung VP 29.1.2016

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